Der fehlende Hunger nach Musik

Da brüllt der Nachbar „Ruhe“ über die grüne Hecke und ruft damit die Mutter der lärmenden Kinder auf den Plan. Diese sucht eine Lücke im Geäst der Ligusterhecke und meint charmant und kaltschnäuzig zum zürnenden Nachbarn: „Haltns noch ein paar Jahrln durch, dann werden sie mit der ewigen Ruhe reichlich belohnt“.

Das wäre also auch eine Methode, dem Thema einfach mit purem Zynismus an den Leib zu rücken, die Sehnsucht nach Stille, nach der längst fälligen Pause von der Zwangsbeschallung ad acta zu legen, dem Kabarett zu überlassen und Applaus zu spenden. Ja, es gibt halt diese und jene Bedürfnisse, jene der jungen Rebellen die jede Tradition links liegen lassen, auf die Pauke hauen und jene der älteren Generation, welche die Pauke ganz gezielt im Instrumentarium großer Werke eingesetzt haben möchte, wo zuvor sogar das Hüsteln der Verkühlten unterdrückt wird, um dem Dirigenten freie Bahn für den Einsatz zu geben.

Es gibt auch die Freude am ungezügelten Rummel

Das klingt beinahe wie eine einseitige Stellungnahme zugunsten besserer Hörgewohnheiten und hochkultureller Beschaulichkeit. Seien wir daher ehrlich: Der Rummel hat schon auch etwas an sich: Wenn der Zirkus bei uns Station macht, wenn im Vergnügungspark die Geisterbahn abfährt und gekreischt wird. Ebenso in der Disco, wenn die Bässe kleine Erdbeben in uns auslösen. Oder gar, wenn wir in Urlaubsstimmung sind und an der Eisbar vor Kälte bibbernd den heißen Jagatee bei ebenso heißen Rhythmen schlürfen. Und ganz aktuell: Das Getriebe am Christkindlmarkt mit dem Duft von gebratenen Maroni und den Klängen des  Bläserensembles. Sie intonieren ausgerechnet „Stille Nacht“ im rundum tosenden Verkehrslärm, zwischen den Warntönen der Einsatzfahrzeuge und dem Stapellader, der eine Palette keramischer Weihnachtsmänner zur Verkaufsbude jongliert. Dass mitten drinnen die Augen der Kinder glänzen und ganze Familien sich in ihrem Weihnachten suhlen, dürfen wir nicht grundweg als schlecht bewerten. Für manche ist Weihnachten ein Fest der Dekoration und das Teilhaben an der Eventkultur. Wer sich die Stille und seine Rituale im Advent erhalten hat, möge sich aber glücklich schätzen.

Seien wir also nicht zu streng mit dem Weihnachten, welches aus den Ufern geraten ist. Seien wir dafür aber hellhörig für die Gegensätzlichkeiten, denen wir genussvolle Kontraste abgewinnen können: Helligkeit und Dunkelheit, Schärfe und Milde, Kälte und Wärme, Süßes und Saures, Regen und Sonnenschein und eben auch Lautes und Leises. 

War früher alles besser?

Zumindest was die Aufmerksamkeit für Musik betrifft, wird das wirklich stimmen. Es war ein freudiges Ereignis, wenn Musikanten ins Dorf gekommen sind, wenn jemand im Innenhof aufgespielt hat, wenn die Dorfmusik zum Weckruf angetreten ist. Und ja, die Übersättigung ist es, die uns den wahren Genuss verwehrt. Die Geschäfte sind beschallt, die Tiefgarage ebenso und selbst die Toilettenanlagen sind bespielt und auch das gemütliche Kaffeehaus. Daheim und im eigenen Auto wählen wir – warum nur? – wieder Musik. Vielleicht, um nicht miteinander reden zu müssen. Vielleicht aber, weil wir die Stille nicht mehr aushalten können. Musik dient uns als permanente Bestätigung, dass wir noch am Leben sind.

Die selbst erwählte Stille ist also ein Elixier, welches dem fehlenden Hunger nach Musik zuspielt. Vielleicht finden Sie inmitten all dieser Gedanken den Schlüssel für Ihren eigenen Weg, Weihnachten neu zu entdecken…

Eine Hiobsbotschaft:

Ein Großteil der Menschheit muss heute künstlich beschallt werden. (H.H.)


Beitrag in der Zeitschrift „Zwiefach“ 6/2020, herausgegeben vom Bayerischen Landesverein für Heimatpflege, München. Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.