Ein geheimnisvoll nächtlich Besuch…

Eine wahre Begebenheit mitten in unserem Tal

Also geschah es, damals als sich der alte „Übelbacher“ – so nannten wir jenes laut tosende Schienenungeheuer – noch tutend und schnaufend durch das Tal wälzte. Heute ist diese veraltete Zugmaschine längst einer modernen Garnitur gewichen und dennoch ist der Name geblieben. „Der Übelbacher“ verkehrt nach wie vor zwischen Peggau und dem Markt Übelbach. Er hält auch am Rande unseres Dorfes und wir sagen zu dieser Haltestelle stolz „Hauptbahnhof Zitoll“.

Aber entschuldigt – ich schweife ab in meiner Erzählung. Es geschah also damals, als noch der Leo Berger – einer der Lokführer – dieselbe Bahnstrecke auch zu Fuß begehen musste, als Streckengeher sozusagen, um den Zustand der Gleisanlagen zu überprüfen. Ja – und da begab er sich dann und wann zu uns nach Hause, um in unserer Küchenecke Brotzeit zu halten.

Brotzeit – das ist ein Begriff, der in Bayern gut verstanden wird und in Österreich mit dem Jausnen als Zwischenmahlzeit übersetzt wird. Na gut, ich verheddere mich immer wieder in meiner Erzählung. Jedenfalls hat der Leo seine Brotzeit mitgebracht, und die Härtel-Kinder griffen gut zu, denn Leos Schmankerl schmeckten immer etwas besser als das Hausgemachte in Zitoll. Der Leo aber bekam als Entschädigung ein kühles Bier kredenzt und Ihr alle, der Hermann, die Resl, der Matthias, die Linde und der Vinzenz tatet Euch schon damals als gute Sänger hervor. Das gefiel dem Leo, dem das Singen von den Eltern mitgegeben worden ist.

Aber was geschah damals in der Vorweihnachtszeit?

Ja, es war schon damals so, – das muss ich erwähnen, noch bevor ich nochmals auf dem Glatteis der Erinnerungen ausrutsche – dass diese Bahnstrecke des Sonntags außer Betrieb war. Und eines Tages klopfte es spät abends an der Tür, – ich öffnete – und eine zarte Stimme fragte atemlos: Wann fährt der Zug? Nun ja, ich war ja auch damals kein Fahrdienstleiter und zu keiner Fahrzeit-Auskunft berechtigt. Bevor ich aber dem Mädchen – von der Stimme her war es eines – eine Absage erteile, so dachte ich mir, sei Höflichkeit geboten. Irgendetwas war mir nicht geheuer, waren es die Augen, die zierliche Nase, der breite Umhang oder gar das ausufernde Silberhaar?

Woher kam sie und wohin wollte sie?

Bevor ich also wieder abschweife: Höflich gab ich zur Auskunft, dass der Zug erst wieder am Montag in Betrieb gehe. Und blitzschnell fügte ich ein Angebot hinzu – vor allem, weil man eine solch junge weibliche Person an einem dunklen Dezemberabend nicht auf der Straße stehen lässt. Na ja, ich bot ihr an, sie zum nächsten Anschlusszug nach Peggau zu bringen, dort würde sich recht bald eine Verbindung ergeben. Ich zeigte also Hilfsbereitschaft und fragte gleich einmal: Wohin geht denn die Reise?

Und jetzt wurde es zum ersten Male geheimnisvoll

Sie verschwieg mir ihr Reiseziel, nahm aber meine Hilfsbereitschaft dankbar an. Sobald ich aber um etwas Geduld bat, weil ich ja meine fünf Kinder mitnehmen müsse, erschrak die rätselhafte Person sichtlich und wollte schon entsetzt ablehnen. Zum besseren Verständnis: Eure Mutter war an diesem Abend nicht daheim und ich konnte Euch doch nicht alleine und unbeaufsichtigt zurücklassen.

Das erschrockene Verhalten der nächtlichen Besucherin war also ebenso geheimnisvoll. Im nächsten Augenblick aber purzelte ein Kind nach dem anderen vor die Tür. So spät am Abend noch mit dem Auto wegfahren, da wolltet Ihr unbedingt dabei sein.

Trug sie unter dem Mantel einen Rucksack oder was?

Und so geleitete ich die junge Dame zum Auto und dabei wurde es zum dritten Male geheimnisvoll. Sie bat mich mit feinem Stimmchen, ihr beim Einstig in das Fahrzeug zu helfen. Wegen dem großen überhängenden Mantel, so meinte sie. Na ja, was sage ich Euch: Unter dem zauberhaften großen Mantel trug das Mädchen keinen Rucksack, wie ich annehmen wollte. Und dennoch war da etwas, was mich stutzig machte. Es reichte hinunter bis zu den ledernen Stiefeln, auf denen jeweils ein feiner Silberstern glitzerte…

Eine wohlklingende Fahrt zum Bahnhof

Kurz und gut: Das heikle Ladegut war verstaut und die Fahrt ging los. Ihr Kinder wart damals – es war ja schon Advent – das Singen gewöhnt und so erschallte im Wagen gleich nach der ersten Kurve „Der Engel des Herrn“. Ein Seitenblick zu unserem geheimnisvollen Gast sagte mir, dass meine Kinder eine gute Liedauswahl getroffen haben. Die junge Dame schmunzelte in sich hinein, ihre Augen blitzten.

Am Bahnhof Peggau wartete schon der Regionalexpress und so blieb uns nur mehr das Nachsehen, als das Mädchen im wallenden weißen Mantel über die Gleise hüpfte, die Stufen erklomm und in den Abteilen verschwand. Zuvor an der Autotür aber wisperte sie mir etwas zu, was ich bis zum heutigen Tag für mich behalten habe. Ihr Kinder wart ja noch klein und ich wollte den Zauber nicht brechen, dem diese Begegnung zu Grunde lag. Noch viele Tage hat Euch das Geheimnis um unseren Fahrgast beschäftigt.

Woher kam sie, wer war sie gewesen und wohin war sie entschwunden?

Es ist mir wohl sehr schwer gefallen so lange zu schweigen, über das Wunder mit niemanden zu reden zu können. Nicht einmal mit dem Herrn Pfarrer habe ich darüber gesprochen – wer weiß, ob er mir die Geschichte abgenommen hätte? Und so habe ich das Geheimnis Jahrzehnte mit mir herumgeschleppt. Die Wahrheit nämlich über den Besuch eines sehr seltenen Gastes auf Erden.

Aber heute kann ich offen reden: Die Geheimnisvolle war ein Himmelsbote. Himmelsboten sind immer in geheimer Mission unterwegs und deshalb wollte er weder von mir noch von Euch Kindern erkannt werden. Und der Himmelsbote wurde himmlisch ruhig, als er Euch so schön singen hörte vom Engel des Herrn.

Na ja, das hätte ich bald vergesse zu sagen: Beim Aussteigen aus dem Auto war ich wieder behilflich und ertastete ein Paar weiche Flügel, die bis zu den Füßen reichten. Bevor der Himmelsbote aber hastig zum Zug lief flüsterte er mir zu: Ich bin der Engel des Herren!


Die CORONA Krise 2020 verhinderte die familiären Zusammenkünfte mit den verstreut wohnenden Kindern und Enkelkindern und so waren an den Adventsonntagen Familientreffen per Livestream angesetzt. Inmitten vieler musikalischer Beiträge hatten die „wahren Begebenheiten“ aus alten Zeiten für unsere Kinder und Kindeskinder einen hohen Anwert. Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.