Die Kultur der Ausreden und Notlügen

Mein Gott, waren das noch Zeiten als wir behaupten konnten, jemand rückgerufen zu haben, obwohl wir es absichtlich unterließen. Die Ausrede „Ich hab‘ es oft probiert, Du warst nie zu erreichen“ kam uns ganz leicht über die Lippen.

Der erlogene Versuch mit jemanden Kontakt hergestellt zu haben, dessen Anliegen unseren Plänen zuwiderläuft, nennt man „abwimmeln“ und erspart uns das äußerst unangenehme NEIN auszusprechen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie sich niemals einer solchen Notlüge bedient haben – damals, als Sie noch am Festnetz hangen.

Vom Festnetz zum Quälgeist

Heute sind unsere Anrufe am Display nachweisbar aufgelistet. Ja, die Technik macht`s möglich und übt permanente Kontrolle aus. Schade, denn es fehlt uns das Schlupfloch zu den allerbesten Ausreden, die weltweit gesammelt und herausgegeben, durchaus literarischen Wert hätten. Sie gehen also den Bach runter, die erholsame Unerreichbarkeit, die Anonymität und viel mehr noch die Kunst, sich die perfidesten Ausreden einfallen zu lassen und sie mit Überzeugung vorzutragen.

Die Ausrede als schönes Schlupfloch

Damit nicht genug, gilt gleiches auch für den guten alten Brief, der – als er noch ein griffiges Poststück war – bei uns nicht angekommen ist. Welch saloppe Lösung hatten wir für das Unangenehme parat, denn die Nachricht, die uns in die Zwickmühle bringen könnte, landete – im Papierkorb. „Nein“ hieß es dann empört, „ich habe Dein Schreiben nie bekommen – wäre es wichtig gewesen?“.

Auch diese Methode ist in Verlust geraten. Unser Mailserver weist penibel den Erhalt jedes Schreibens nach. Ja, wir sind nicht mehr imstande, den Eingang eines Briefes – den wir gar nicht haben wollen – abzustreiten. Sicherlich haben Sie diese Ausreden ebenfalls nie gebraucht oder sie tunlichst als ferne Erinnerung abgelegt?

Der leere Akku, das verlegte Kabel und das Funkloch

Und jetzt habe ich Sie erwischt, denn um die neuen, standardisierten Ausreden kommen Sie nicht umhin: Ich habe mein Handy verlegt /der Akku war leer gewesen / ich war in einem Funkloch /mein Handy spinnt seit Tagen. Und dasselbe gilt für den Mailverkehr per Laptop, falls Sie eine Mail nicht rechtzeitig erhalten haben wollen: Ich hatte keine Internetverbindung /mein Netzkabel war nicht zu finden /ich hatte einen Datenverlust erlitten /ein Virus hat mich wochenlang lahmgelegt…

Ach, wie eintönig sind doch die Ausreden und Notlügen geworden, es fehlt ihnen das gewisse Etwas…


Härtels kleines Credo, Martinsbote des Pfarrverbandes Deutschfeistritz-Peggau, Übelbach, Sommer 2020, S. 18; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.

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