Musik beim Wirt – eine Spurensuche

Nein, ich habe es nicht erfunden, das Aufspielen beim Wirt. Nein, es war nichts Neues, denn nirgendwo verfließen Gastlichkeit, Geselligkeit und musikalische Lust so ineinander wie im Wirtshaus.

Und da gab es damals in den Siebzigerjahren – ohne mein Zutun – einige gute Beispiele dafür. Was uns aber heute noch an der Vielfalt, dem Variantenreichtum und der Ausdruckskraft unserer Volksmusik so fasziniert, ist das Ergebnis aus den ungezählten Begegnungen nach getaner Arbeit oder an Feiertagen in Almhütten, Berggasthöfen und beim Dorfwirt. Ich rede nicht nur von früher, als noch vorwiegend landwirtschaftliche Strukturen vorhanden waren und sich der Zeitenablauf nach dem Wetter richtete. Nein, ich rede auch vom Jetzt, denn nach wie vor ist diese spontane Geselligkeit vorhanden, sie ist eine Spielwiese für die musikalische Überlieferung und überhaupt deren einzige Chance.

Musik als Gleitmittel der Geselligkeit

Begeben wir uns also zu Fest und Feier, zum Ausklang des Arbeitstages: Da rottet sich eine Gesellschaft zusammen, die stundenlang redet und Karten spielt. Dann und wann aber erklingt ein Jodler oder ein Lied. Und meist ist es der Anfang von klangvoller Endlosigkeit. Der Anlass ist also schlicht und einfach die Notwendigkeit, sich das Leben schöner und besser zu machen, sich über die Musik besser zu verständigen als es die Sprache jemals könnte. Der Anlass ist dabei keine termingerechte Volksmusikveranstaltung und die Inhalte sind nicht aus dem Programm sondern aus dem Leben gegriffen, die personelle Zusammensetzung ist dem Zufall überlassen. Musik ist auch nicht die Hauptsache, sondern Gleitmittel. Das sind Stunden, die neben der Unterhaltung und Fröhlichkeit auch den Keim der Überlieferung in sich bergen. Wie wertvoll sind doch die Wiederholungen ein und desselben Jodlers, das Ausbreiten von unendlich vielen Textstrophen, das Ablesen der noch unbekannten Strophe von den Lippen des Gegenübers. Nichts ist fertig an dieser Musik, aber sie ist mit Spannung aufgeladen. Und noch etwas: Dieses permanent vorhandene abrufbereite und mit Musik angereicherte Landleben bedarf keiner Agentur, keiner Werbeeinschaltung und keiner Dotierung im Kulturbudget.

Die lehrreiche Welt der Notwendigkeiten

Ich gebe nach wie vor diesem Lernen im Lebensfluss den Vorzug, habe ja auch für den Topfenstrudel nie einen Kurs oder ein Kochbuch benötigt, dafür jahrelang meiner Mutter den Umgang mit dem Teig und der Fülle abgeluchst. Für die Volksmusik gilt ein ähnliches Rezept: Vorspielen, nachspielen, vorsingen, nachsingen, hinschauen, abschauen und oftmals gebrauchen. Dabei wird der Instinkt fein ausgebaut, Varianten entdeckt, Akkorde entstehen durch Notwendigkeit und der Verlust von Text oder Melodie wird durch die Erfindung ausgeglichen. Das ist Wahrhaftigkeit par excellence und Grund genug, dem Wirtshaus gegenüber dem Lehrsaal den Vorzug zu geben. Der Musikwissenschaftler Franz Eibner (1914-1986) hat es auf den Punkt gebracht: „Das Wirtshaus ist die Hochschule der österreichischen Volksmusik“.

Bei all dem schon Gesagten könnte man mir unterstellen, nostalgischen Gefühlen gefolgt zu sein. Die waren es aber nicht, die mich veranlasst haben, der Musikbegegnung im Gasthaus den Vorzug zu geben. Vielmehr war es die wachsende Skepsis gegenüber einer verstärkten Verschulung und Nivellierung von Volksmusik, die Reduzierung von Volksmusik und Volksgesang auf sterile Töne, sowie virtuose Verzierungen für die Bühne. Das war für mich weit entfernt von Ausdruckskraft, von Lebendigkeit, von Emotion, von freier musikantischer Entfaltung und der Nähe zum Leben selbst.

Professionalität muss in diesem Zusammenhang neu gedeutet werden

Soviel zum Hintergrund einer Kulturinitiative, die zu Beginn der 80er Jahre einen fulminanten Start hingelegt hat. Das Besondere daran war, dass ich die Förderung dieser musikalischen Begegnungen im Wirtshaus zum Prinzip meiner Arbeit gemacht habe – und zwar flächendeckend. Ich hatte nie das Bedürfnis, gute Instrumental- oder Gesangsgruppen auf den Bühnen vorzustellen, denn die ausschließliche Darbietung ist von Lebendigkeit weit entfernt und fördert Professionalität, um die ich gerne einen großen Bogen gemacht habe. Es war mir lieber, dem Werden von Musik zu dienen, dem Annähern an den Gebrauchswert und dem Ausufern von Emotionen. Professionalität in der Volksmusik sollte überhaupt neu gedeutet und begriffen werden.

Die Gasthausmusik als Forschungsfeld

Ich war ja nicht nur der Motor einer Kulturinitiative, sondern auch begeisterter Feldforscher und als solcher tat sich gerade in den kleinen Gaststätten ein reiches Betätigungsfeld auf. Was Wunder, dass ich bemüht war, landauf und landab den Musikantenstammtisch zu verankern. Ob die hundertfach ins Leben gerufenen Stammtische dem Prinzip gefolgt oder treu geblieben sind, das weiß ich nicht. Da und dort sind Volksmusik, Schlager und Jazz miteinander verschmolzen oder auch die volkstümliche Musik einbezogen worden. Gut so, aus dem Vollen sollte geschöpft werden ohne Einschränkungen und im Dialog mit dem Publikum, welches gerne selbst mitgemacht hat. Nein, nicht jede Entwicklung war mir geheuer und recht. Ich habe mich aber stets dagegen verwehrt, der Gasthaus-Unterhaltung ein Reglement zu verordnen. Musikantenstammtische sind deshalb überall anders positioniert und anders erlebbar und das ist gut so, denn darin steckt der Keim der permanenten Erneuerung.

Wann und wie wurde aber „Musik bei Wirt“ geboren?

Mit meiner Musikgruppe hatten wir schon alle Facetten – vom unfreundlichen bis hin zum musikantenfreundlichen Wirt kennen gelernt. Und manche Wirtshäuser haben wir halt viel lieber in die engere Auswahl genommen, um dort einzukehren. „Solche sollten wir eigentlich auszeichnen“ meinte ich zu meinen Kollegen und das war Mitte der Siebzigerjahre und damals war ich noch in meinem Erstberuf tätig. Es hat dann noch Jahre gedauert, bis ich ins Amt der Steiermärkischen Landesregierung berufen wurde. Da war zuerst das Volksliedarchiv aus dem Dornröschenschlaf zu holen, dessen Bestände erstmals im Jahre 1986 für die Öffentlichkeit zugängig gemacht wurden. Und gleichzeitig war es an der Zeit, aus diesem Fundus zu publizieren und den Internationalen Liederdienst einzurichten.

Es gab gute Gründe, die Initiative zu ergreifen

Für die Initiative „Musik beim Wirt“ verbunden mit der Ernennung zur „Musikantenfreundlichen Gaststätte“ und der Abhaltung regelmäßiger „Sänger- und Musikantenstammtische“ gab es mehrere Gründe: Zum einen waren es die vielen positiven Stimmungen, die ich als Musikant in Wirtshäusern erlebt habe, zum anderen aber der sprunghafte Anstieg von Volksmusik – Bühnenveranstaltungen, meist mit dem Pathos behaftet, das Echte zu pflegen. Und außerdem hat meine Vorgängerin als Geschäftsführerin des Volksliedwerkes, Frau Dr. Gundl Holaubek-Lawatsch, keine Initiativen in diese Richtung gesetzt. Zu ihren Schwerpunkten zählten das Hirten- und Krippenliedersingen in der Grazer Antonius Kirche und volkskundliche Sendungen im Rundfunk, für die ich sie stets bewundert habe. Dass Frau Dr. Holaubek mich als Quereinsteiger akzeptiert und mir nie etwas in den Weg gelegt hat, dafür bin ich ihr immer noch dankbar. Und vor allem auch dafür: Sie hat das Archivmaterial in den letzten Kriegstagen mit einem Handkarren von der Universität ins Depot des Volkskundemuseums – und damit in Sicherheit – gebracht.

Und freilich gehören auch meine frühen Erinnerungen angeführt: Als Jugendlicher habe ich in den Sechzigerjahren in der Familienmusik das Hackbrett gespielt und leider allzu viele sehr langweilige Bühnenveranstaltungen erlebt. Noch heute ist mir unklar, warum das Publikum von der musealen Retro-Umarmung begeistert war.

Und deshalb wollte ich es anders machen

Ich wollte also dort ansetzen, wo Überlieferung eine Chance hat – im Wirtshaus, wo in der Nachkriegszeit das Singen und Musizieren gerade noch vorhanden, anders wo beinahe schon verklungen war. Zuerst waren es bald einmal 60 Musikantenfreundliche Gaststätten, im Jahr 1999 waren es bereits 100 Gaststätten mit 700 jährlichen Ereignissen und heute sind es 250 Gaststätten und Buschenschänken mit knapp 1000 Veranstaltungen in der Steiermark. Dass sich alle österreichischen Bundesländer und viele Regionen in Südtirol und Süddeutschland bald angeschlossen haben, sei hier angemerkt.

Wie konnte man damals bei „Musik beim Wirt“ mitmachen?

Es gab natürlich Gaststätten, die schon immer in diesem Sinne tätig waren, sie wurden bald einmal ausgezeichnet und in den Kreis aufgenommen. Viele Hinweise kamen aber aus der Bevölkerung, von Musikanten und Sängern, die durch Pressemeldungen auf unsere Initiative aufmerksam wurden. Und in Graz?

Bis der Babenbergerhof in Graz mit der umtriebigen Anna Wolf-Zimmermann gefunden wurde, waren einige Versuche gescheitert. Dies sei gesagt, damit klargestellt ist, dass ich bei der Suche nach solchen Lokalen bestimmte Vorstellungen hatte.

Schon ganz zu Beginn meiner Tätigkeit als Geschäftsführer waren die 40 Stunden zu wenig, um so vieles gleichzeitig zu bewerkstelligen. Für „Musik beim Wirt“ war es notwendig, viel unterwegs zu sein und die Wirte aufzusuchen. Es bedurfte eines Sponsors, um einen Mitarbeiter auf die Reise schicken zu können. Ich vereinbarte zuallererst einmal einen Termin beim Fachgruppenvorsteher der Fachgruppe Gastronomie, bei Herrn Sepp Thewanger (1922-1998). Er war mir ja kein Unbekannter, weil schon mein Vater auf dem Weg vom Ennstal nach Graz – und später auch ich selber – im Gasthof Thewanger in Mautern einkehrten und sein Beuschel mit Knödel zu schätzen wussten.

Die perfekte Partnerschaft mit der Gastronomie

Für die Vorsprache in den Amtsräumen der Wirtschaftskammer hatte ich ein Bündel Zeitungsausschnitte vorbereitet und konfrontierte den Kommerzialrat mit den schlimmsten Schlagzeilen: „Drei Tote nach Gasthausbesuch“; „Todessturz in den Bach nach Gasthausbesuch“; Schwerer Verkehrsunfall bei der Heimfahrt nach Wirtshausbesuch“ u.s.w. Mit Leidenschaft legte ich Herrn Thewanger die entsetzlichen Nachrichten auf den Schreibtisch und behauptete schlichtweg: „Die Gastronomie hat einen schlechten Ruf“.

Beinahe wäre es zu einem Eklat gekommen, der Herr Kommerzialrat war kurz davor, mich auf die Straße zu setzen. Ich ließ aber nicht locker und meinte einen verlockenden Vorschlag zu haben, wie man der Gastronomie aus dieser Klemme helfen könnte: Mit Musik beim Wirt nämlich, mit einer Initiative, um die Gaststätten als Kulturträger mit Musik, Gesang, Geselligkeit und Tanz zu positionieren.

Die Stimmung wurde merklich besser. Ich versprach dem Herrn Thewanger eine hohe Anzahl an Beteiligungen der Wirte und zugleich auch eine geschätzte Anzahl an Veranstaltungen. Die Zahlen waren alle aus der Luft gegriffen, haben sich aber schon nach zwei Jahren bestätigt. Das Ergebnis dieses emotionalen Gesprächs war gleich einmal die Zusage für eine erste Tranche von ö.S. 100.000.– und damit war „Musik beim Wirt“ auf Schiene.

Es gab auch einen strikten Gegner einer solchen Wirtshausunterhaltung

Ich nenne hier den verdiente Musikerzieher, langjährigen Musikschuldirektor, Mitherausgeber des Steirischen Liederbuches und Autor vieler Liederblätter, die er mit meiner Hilfe beginnend mit dem Jahre 1981 im Volksliedwerk publiziert hat: Prof. Rudolf Schwarz (1917-1990). Seinen Protest trug er damals sogar dem Landeshauptmann Josef Krainer (1930-2016) in die Grazer Burg. „Wir Musikerzieher haben Jahrzehnte gearbeitet, um die Volksmusik aus dem Gasthaus-Milieu heraus zu bekommen, der Härtel bringt sie wieder dorthin.“ Das war sinngemäß der Vorwurf des Prof. Schwarz, über dessen Vorsprache mich der Herr Landeshauptmann später in Kenntnis setzen sollte. Dabei hat er angefügt: „Måchst anfåch weiter so…“

Nachbetrachtet, außerdem und überhaupt

Nachbetrachtet denke ich, dass es die simple Idee war, die überzeugt hat. Musik hat dort ihre größte Wirksamkeit, wo sie nicht als Hauptzweck erklingt, sondern den Teppich legt für das Lebensgefühl. Sie hat auch die Kraft, die Zeit zu strecken und lässt die Vergänglichkeit gerne links liegen. Ich selbst möchte Musik nicht anders erleben als unter dieser Prämisse.

Gerne denke ich zurück an die vielen Gespräche mit dem Vorsitzenden des Volksliedwerkes, Herrn Hofrat Dr. Hubert Lendl (1912-2002). Der Volksbildner hat den Wert meiner Überlegungen gerne kommentiert und meine Arbeit immer unterstützt, ebenso wie sein Nachfolger Hans Martschin. Nach dem Bündnis mit Kommerzialrat Sepp Thewanger blieb die Fachgruppe Gastronomie stets ein getreuer Partner, getragen auch vom Wohlwollen des Kammersekretärs Dr. Gerhard Kienzl. Mitgeholfen hat aber auch der Österreichische Veranstalterverband, dessen langjähriger Vizepräsident Kommerzialrat Wolfgang Reinprecht (1935-2014) mir als Verbündeter zur Seite stand.

Zu einer kulturpolitischen Arbeit gehört auch die Übereinstimmung mit der Politik, die stets wieder auf Neue gesucht werden muss. Dass es damals dennoch schwierig war, das errungene politische Wohlwollen im Amt der Landesregierung umzusetzen, hat mich nie verwundert. Meine Vorgesetzten waren einfach überfordert, weil es um substanzielles Handeln und um langfristige Strategien ging. Enttäuschend war auch die Ignoranz der Tourismusabteilung. Der zuständige Hofrat, den ich um Unterstützung bat, weil „Musik beim Wirt“ ja auch durchaus touristische Relevanz hätte, meinte: „Wenn Sie mir eine Liste mit Terminen der Gaststätten geben und dazu eine Aufstellung haben, wie viele Autobusse dort parken können, dann kommen wir ins Gespräch“. Das Gespräch war damit beendet.

Zurück zur Musik im Gasthaus

Volksmusik ist dort am besten aufgehoben, wo sie zur Gebrauchsmusik wird, sich ins Leben einnistet und wo vor allem Imagination im Spiel ist. Das ist dann eine tiefe Beziehung zur eigenen Musik. Eine, die permanent die Lustbarkeit anstachelt.

Nein, heute ist es nicht sicher, ob der Höller Bertl die Harmonika umhängt, ob der Lärchbauer sein Wildschützenlied ansingt, wann der Wirt zur Bassgeige greift und der Berger Theo seinen Hodl di -Jodler anstimmt. Nein, niemand weiß, wann die Musik beginnt, ob die Wirtin – wie letzten Sonntag – am Tisch oben ihren Tanz hinlegt und wann der letzte Ton verklingt. Es ist eine fabelhafte und köstliche Besetzung in der Gaststube und es sind lauter Regisseurinnen und Regisseure, die gestikulierend und jeder für sich die Hauptrolle spielen. Nein, mit weniger wollte ich mich damals nicht zufriedengeben.


Beitrag zum 40 Jahr-Jubiläum „Musik beim Wirt“, Der Vierzeiler, 2/ 2019 S. 12-16; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.