Rede anlässlich der Gedenkmesse in der evangelischen Pfarrkirche Gröbming im Ennstal
Dieses Gedenken an Dr. Josef Pommer setzt voraus, dass wir uns gedanklich in die Zeit des Doppeladlers versetzen. Ich lade Sie also ein in das Österreich der Kronländer, in die Zeit der prachtvollen Bauten. Ich lade Sie ein in die Zeit der weltweit geschätzten Brillanz der Militärmusik, der bunten Uniformen, der Handwerkskunst im gesamten Imperium und der zur Schau getragenen Macht des Kaiserhauses. Und daneben sehen wir das Volk, je nach Stand verarmt und untertänig, oder bürgerlich und wohlhabend, oder geadelt, reich und abgehoben. Allesamt aber aufrecht und standhaft, kaisertreu – bis in den Tod.
In diesem Jahr 2018 haben wir alle in den Medien von der Geburt des Staates Österreich gehört, welcher nach dem unseligen Ersten Weltkrieg als Deutsch-Österreich aus der Taufe gehoben wurde. Es bedurfte aber noch eines Zweiten Weltkrieges um dieses heutige Österreich und damit ein neues österreichisches Selbstverständnis zu bilden. Der bislang erhaltene Frieden verdient daher unsere ungeteilte Dankbarkeit.
Die Historie erzählt uns vom Scheitern der Monarchie, sie war vom Nationalismus zerfressen und das Kaiserhaus konnte – aus welchen Gründen auch immer – dem eigenen Untergang nicht Einhalt gebieten. Dennoch ist diese Monarchie ein Teil unserer österreichischen Geschichte, die in vielen Facetten faszinieren kann und aus der unser heutiges Österreich letztlich hervorgegangen ist. (1)
Ein Kind der Monarchie: Dr. Josef Pommer
In diese prunkvolle und dennoch instabil-brodelnde Welt der Österreichischen Monarchie wurde 1845 Josef Pommer hineingeboren, schloss sich im universitären Umfeld bald den Deutschnationalen Kräften an – inspiriert von Georg Ritter von Schönerer.(2)
Es ging damals nicht um Deutschland sondern um die Deutschen in Österreich, um das Deutsche in Abgrenzung zu den slawischen und romanischen Völkern in der Monarchie. Was Wunder, dass um das Deutsche umso mehr gerungen wurde, wo es doch den kleinsten Teil der Monarchie bildete und sich die Deutschen Österreicher als Minderheit fühlen mussten.
Heute können wir uns mit diesem Nationalismus wenig anfreunden und schon gar nicht mit dem „Deutschnationalen“ der Gegenwart. Dr. Josef Pommer nämlich – was den Nationalismus betrifft – ist kein unbedeutender Mitläufer, sondern ein Verfechter des Deutschen innerhalb der Monarchie und er setzt sogar sein geliebtes Volkslied gezielt als politisches Mittel ein, sinngemäß ausgedrückt in
An den deutschen Liedern soll das Volk gesunden
und mit ihm des Volkes Seele.
Ein für uns heute unverständliches Ansinnen, welches aber seiner nationalen Gesinnung entspricht und ihn dennoch zu großen, gültigen Leistungen inspiriert.
Um es klar auszudrücken: Pommer ist auch kein Mitläufer im damals brandenden Antisemitismus sondern mit seinen Schriften und mit seiner ganzen Überzeugung ein Promotor. Dabei ist er in “guter“ Gesellschaft, etwa mit dem damaligen Bürgermeister Karl Lueger von Wien. Der Antisemitismus gärt damals zu einem unseligen Flächenbrand.
Dieser Teil des Pommerschen Weltbildes ist nicht zu verschweigen und auch nicht mit seinen Leistungen für das Volkslied aufrechenbar. Nach über 100 Jahren fällt es uns leichter, Licht und Schatten nebeneinander beim Namen zu nennen. Die Zeit heilt Wunden – so sagt man – aber es dürfen auch Narben bleiben und diese Narben haben heute in diesem Gedenken an Dr. Josef Pommer ebenso ihren Platz.
Der Erste Weltkrieg geht zu Ende. Die Monarchie geht zu Grunde und für Dr. Josef Pommer bricht eine Welt, nämlich seine Welt zusammen. Die ersehnte Einheit der Deutschen in Österreich ist gescheitert, das Sudetenland verloren, auch die Untersteiermark und ebenso Südtirol. Der Vertrag von St. Germain ist einer der Sieger. Dr. Josef Pommer nimmt sich nach diesem historisch schrecklichen Ereignis in Gröbming, wohnhaft bei der Familie seiner Tochter, verehelichte Stahl, am 26. November 1918 um Halbzwei Uhr nachts das Leben. Ein Patriot wählt aus purer Verzweiflung den Freitod. Dabei entdecken wir die Ursache: es ist ein unüberwindbarer Abgrund, der sich für Dr. Josef Pommer aufgetan hat. Eine lebenslange leidenschaftliche Arbeit für das Volkslied zerfällt just in diesem Augenblick mit dem Zusammenbruch der Monarchie.
Josef Pommers Lebenslauf und seine Volksliedarbeit
(3, 4, 5) Der Großvater von Dr. Josef Pommer war der letzte Hauptmann des stolzen Marburger Schützenkorps. Einer seiner Söhne war auch ein Josef, welcher als Beamter nach Leoben kam und dort Maria Lechner, die Tochter eines Lehrers heiratete. Diese beiden werden die Eltern unseres Josef Pommer. Josef wird 1845 in Mürzzuschlag geboren, ist blond, hat blaue Augen nach dem Großvater mütterlicherseits, dem er wohl auch die Anlagen für Unterricht, Musik und Erziehung verdankt. Josef geht in Graz zur Grundschule, das Gymnasium besucht er gerade dort, wo sein beamteter Vater seiner Dienstverpflichtung nachkommt. Den Hang zu Musik und Poesie hat er seiner Mutter zu verdanken, ebenso den frühen Unterricht am Klavier. Die Reifeprüfung erfolgt im Jahre 1864 in Marburg.
Er nimmt bald Gesangsunterricht und studiert während des Schuljahres 1860/61 – also schon als 16jähriger – Harmonie- und Kompositionslehre. Er versucht sich im mehrstimmigen Bearbeiten von einstimmig aufgezeichneten Volksliedern und dirigiert bereits in der 7. und 8. Klasse einen Schülerchor. Seine anderen Interessen gelten der Mathematik, der Physik und der Philosophie und 1870 erfolgt seine Promotion zum Doktor der Philosophie. Forthin unterrichtet er in Wien und gilt als besonders engagierter Lehrer in den ihm anvertrauten Fächern.
Dr. Josef Pommer ist zu einer charismatischen Persönlichkeit heran gereift, hat eine beeindruckende Gestalt, trägt einen rötlichen Rauschebart, hat blaue Augen und fesselt seine Zuhörer durch ansteckende Begeisterung.
Im selben Jahr – also 1870 – lernt Dr. Josef Pommer Ida Müller von Mühlfels kennen, die er 1874 heiratet. Die Eheleute bekommen fünf Kinder: Otto, Willi, Frieda, Elsa und Hellmuth. Letzterer tritt später in die Fußstapfen seines Vaters und wird durch seine Volksliedarbeit und seine Veröffentlichungen für die Volksliedpflege in Vorarlberg eine führende Gestalt. Schwester Elsa ist bis zu ihrem Tode eine eifrige Vertreterin des Erbes ihres Vaters in Wien.
Die Familie hält sich des Sommers gerne im Salzkammergut, in Ramsau am Dachstein, in Kitzbühel und am Mondsee auf. Und am Mondsee befindet sich auch später der Familiensitz, den Dr. Josef Pommer für seine Kinder und Kindeskinder konzipiert hat. Er bekleidet Zeit seines Lebens zahlreiche politische Ämter, zuletzt ist er von 1897-1907 Reichsratsabgeordneter im Kreis Cilli. Gleichzeitig widmet er sich immer mehr der Volksliedarbeit, sammelt vor allem Jodler, denen er besonders zugetan ist. In Wien trifft er Gleichgesinnte wie etwa Karl Liebleitner, Karl Kronfuß, Karl Magnus Klier, Wilhelm Kienzl, Eduard Kremser, Emil Karl Blüml, Franz Friedrich Kohl, Josef Reiter, Curt Rotter u.v.a.m.
Er unternimmt ausgedehnte Forschungsfahrten durch ganz Österreich unter zu Hilfenahme der spärlich vorhandenen öffentlichen Verkehrsmitteln, eher also mittels Pferde- und Ochsenwagen reist er bis in die hintersten Täler. Pommer ist ein leidenschaftlicher Forscher, er genießt das Zusammensein mit den Leuten am Land und hat seine Freude an ausführlichen Quellenangaben und Situationsbeschreibungen. Mitunter sind die Anmerkungen tragisch-köstlich wie etwa das Kleingedruckte unter dem Jodler, der als „Zeller Staritzer“ in seiner Sammlung „444 Jodler und Juchezer aus Steiermark und dem steirisch-österreichischen Grenzgebiete“ des Jahres 1902(6) aufgenommen wird. Pommer schreibt:
Der Sage nach handelt es sich um den Lieblingsjodler eines Wildschützen namens Scheiterboden-Poldl. Seine Liebste, eine Schwoagarin konnte den Jodler vorzüglich schön singen. Als das Liebesverhältnis nicht ohne Folgen blieb, soll der Wildschütze das Mädchen auf eine Felswand der Zeller Staritzen geführt, erschossen und in den Abgrund gestürzt haben. Bevor er sie getötet, musste sie ihm noch einmal diesen Jodler vorsingen. Der Scheiterboden-Poldl soll heute noch leben. So oft er diesen Jodler hört, muss er weinen.
Es sei zugegeben, es handelt sich um eine schaurige Anmerkung, zugleich aber ist damit beispielhaft dokumentiert, dass dem Aufzeichner kein noch so kleinstes Detail entgangen ist.
Pommers Sammlungen und Publikationen
Dr. Josef Pommers Sammlungen und Publikationen sind auch heute noch eine Fundgrube für alle, die aus dem alten Wissen neues gestalten möchten. Die Kenntnis seiner Jodler-Sammlungen ist die Voraussetzung für jeden, welcher sich heute mit dem Jodler in Österreich beschäftigen möchte. Die gegenwärtig angebotenen Jodlerschulen und Jodelkurse im Internet berufen sich Großteils auf Pommers Arbeiten. Die erst kürzlich ins weltweite Netz gegangene JodlerApp ebenfalls.
Dr. Josef Pommer entwickelt speziell für diese besondere Gattung ein erstes präzises Melodieregister, um die große Menge an Einzelbelegen dieser archaischen Vokalform einer Ordnung zuführen zu können. Er geht die Sache – für die damalige Zeit – innovativ an und gründet 1899 die Fachzeitschrift „Das Deutsche Volkslied – Zeitschrift für seine Kenntnis und Pflege“. Er ist vom Auftrag beseelt, sein Wissen und seine Absichten forthin in dieser Zeitschrift der am Volkslied interessierten Öffentlichkeit vorzulegen. Seine Fachkollegen lässt er darin ausführlich zu Wort kommen.
Dem nicht genug: Er gründet den „Deutschen Volksgesangverein in Wien“, um exemplarisch am Deutschen und am „älplerischen“ Volkslied vorzuführen, wie er sich die Pflege des Volksliedes vorstellt. Die zu dieser Zeit weit verbreiteten Männerchöre widmen sich – nach reichsdeutschem Vorbild – ausschließlich dem Kunstlied. Dies zum Missfallen des Dr. Josef Pommer, der den Männerchören nun – mit einigem Erfolg – die Pflege des Volksliedes ans Herz legt.
Dr. Josef Pommers Volksgesangverein hat aber auch mit einer revolutionären Neuerung für das Chorwesen aufzuwarten: Nachdem das Chorsingen bislang eine Männerdomäne ist, kommen erstmals Frauen als Sängerinnen in Betracht. Mit Sopran, Alt, Tenor und Bass wird der vierstimmige Satz des „Deutsche Volksgesangvereins Wien“ zum Vorbild für alle in dieser Zeit neu entstandenen Chorvereinigungen in deutschsprachigen Städten der Monarchie. Deren Wirken bildet das musikalisch-stilistische Grundmuster auch für die im Kulturleben unserer Bundesländer integrierten „Volksliedchöre“.
Der fleißige Sammler und Aufzeichner publiziert trotz schwieriger finanzieller Umstände und trotz technischer Unzulänglichkeiten. Noten wurden damals mittels Stahlstempel noch einzeln gestochen. Das waren alles keine Hindernisse: Pommer tritt bald als Autor zahlreicher Liedausgaben, Liederbücher und vor allem Jodlerbücher in Erscheinung(7).
Dr. Josef Pommers Liebe und Hinwendung zur Volksmusik kommt nicht aus seiner akademischen Gelehrtheit, sondern aus seiner Nähe zu den einfachen Leuten am Lande, die in ihrer Unbedarftheit damals einen erstaunlichen Umgang mit ihrer Musikalität lebten, aus einem Selbstzweck heraus und in Ermangelung anderer musikalischer Möglichkeiten und Erfahrung. Pommers Sammlung ist ein Zeugnis der damals gelebten reichen Klangwelt, die uns heute noch überraschen und faszinieren muss, ob der Vielfalt, der hohen Qualität und ob ihrer stilistischen Besonderheit. Warum sollte uns gerade dieses Entstehen einer eigenen Volks-Klangwelt nicht wundern, gestaltet aus der Musikalität der Singenden? Das Notenbild wurde erst erfunden, als die Musik schon längst geboren war.
Für Dr. Josef Pommer hat sich ein fantastisches Forschungsfeld geöffnet, dem er nicht mehr entkommen konnte. Er ist nicht nur beseelt davon, er kann auch von seinen Aufzeichnungen jeden Jodler, jedes Lied selber singen, jede Stimme einordnen. Er ist überzeugt davon, dass es sich bei seiner Arbeit um die Rettung des schwindenden Volksliedes handle. Für uns Nachkommende ist dies eine unverständliche Ängstlichkeit. Er schöpfte doch aus der Fülle der vorhandenen Überlieferungsströme, die er bei seinen vielen Sammelfahrten gefunden hat und hörend ins Notenbild übertrug.
Die geplante Volkslied-Enzyklopädie
Was Wunder aber, dass der ehrgeizige und fleißige Mann seine Sammlung unter Mitwirkung von vielen Kollegen aus dem Fache in einer Enzyklopädie veröffentlichen will. Dabei ist ihm das Deutsche Reich mit der berühmten Sammlung von Franz Magnus Böhme und Ludwig Erk (der erste Band erschien 1893) ein großes Vorbild(8). Der damalige Minister für „Cultus und Unterricht“, Wilhelm Ritter von Hartel, beauftragt Dr. Josef Pommer die Gesamtausgabe „Das Volkslied in Österreich – Volkspoesie und Volksmusik der in Österreich lebenden Völker“ vorzubereiten. Alle damals in allen Kronländern verfügbaren Gelehrten wurden eingeladen,
in ihren Provinzen das traditionelle Lied- und Musikgut aufzuzeichnen und in einer wissenschaftlich bearbeiteten Form in eigenen Bänden zu veröffentlichen. Es sollen insgesamt 60 Bände werden. Ein geradezu unglaubliches Vorhaben.
In Wien wird eine das Unternehmen lenkende Kommission eingerichtet, formal und inhaltlich von Dr. Josef Pommer mitbestimmt. Volkskundler, Germanisten, Slawisten und Romanisten sind dabei bemüht die Aufzeichnungs-Richtlinien zu entwerfen und für die verschiedenen Dialekte eine lesbare Form zu finden. Für die Lied- und Musiksammlung in deutschsprachigen Regionen verfasst Dr. Josef Pommer im Jahre 1905 die „Grundzüge für die Sammlung“, darin zu lesen ist:
Zu sammeln ist zunächst das, was aus dem Volke selbst hervorging, das eigentliche Volkslied und die eigentliche Volksmusik … ferner alle jene Kunstprodukte, welche vom Volke aufgenommen, in seiner Weise auswendig gesungen, vererbt und verändert wurden (das sogenannte „volkstümliche Lied“) mit allen seinen verschiedenen Les- und Singarten …(9)
Dieses Gesamtwerk und die gemeinschaftliche Arbeit an der Volksmusik aller Länder der österreichischen Monarchie, sollten auch zur Befriedung der politischen Spannungen innerhalb des Vielvölkerstaates beitragen. Das war gut gemeint, ging letztlich nicht in Erfüllung.
Es ist überliefert, dass er sich – der Antisemit – vehement dafür einsetzt, der jüdischen Volksmusik ebenso einen von Gelehrten besetzten Arbeitsausschuss zu gründen. Er springt also über seinen ideologischen Schatten und die Wissenschaftlichkeit gewinnt Oberhand. Er wird aber in der von ihm gelenkten Kommission überstimmt. Die Begründung für die Nichtaufnahme lautet lapidar: Die Juden sind kein in sich geschlossenen Staatsvolk, dem sie zuzuordnen wären. Es wäre also notwendig gewesen, in jedem der Kronländer einen Beauftragten für die jüdische Volksmusik zu einzusetzen. Dies war offensichtlich undurchführbar. Aus heutiger Sicht wäre es damals die große Chance gewesen, die Musik der jüdischen Volksgruppe ausführlich zu dokumentieren.
Trotz alledem ging die Arbeit zügig voran. 1914 waren 10 Bände beinahe druckfertig. Für die Volksmusik der Steiermark waren vier Bände geplant, deren Druck Dr. Josef Pommer vorbereitete. Da fallen die Schüsse in Sarajewo, der Thronfolger wird ermordet und der Erste Weltkrieg nimmt seinen unheilvollen Lauf. Die Sammelarbeit wird – soweit möglich – auch im Kriege weiter geführt und 1918 erscheint ein „Probeband“, welcher die spezifische Art der Veröffentlichung des gesammelten Materials vorgibt. Dieses Exemplar ist heute im Nachdruck verfügbar. (10)
Der Krieg ist 1918 zu Ende und verloren und damit endet auch das große Forschungsprojekt „Das Volkslied in Österreich“. Zurück bleiben – zwischen Schutt und Asche – als gebrochener Mann – Dr. Josef Pommer und die gesammelten Materialien in allen nun selbstständig gewordenen Nachfolgeländern. Dort werden bald Forschungszentren gegründet und Archive eingerichtet. Diese doch noch positive Wende seiner Bemühungen hat Pommer nicht mehr erlebt. Und es sei – nach aller offenen Kritik an der Person Josef Pommer – hier klar und deutlich angefügt: Sein Werk für die Volksmusik aller ehemaligen Kronländer und damit auch für unser heutiges Österreich ist bedeutend und unbestritten.
An Dr. Josef Pommer bleibt der Vorwurf haften, das „all-deutsche“, das Deutschnationale als Geisteshaltung in die Volksliedpflege hineingetragen zu haben. Sein wortstarkes Eintreten für das deutschsprachige Volkslied, im Zusammenhang mit dem deutschen Anteil an der Monarchie, wurde unheilvoll umgedeutet zu einem großdeutschen Anliegen. Noch bis in unsere Tage hinein scheint das Volkslied – völlig zu Unrecht – in manchen Kreisen der Bevölkerung einen politischen Beigeschmack zu haben. Ich sage dies als langjähriger Kulturarbeiter, dem es stets ein Anliegen war, die Volksliedarbeit als gesellschaftpolitisches Anliegen zu formulieren, sie aus jeder Ideologie heraus zu halten. Es war ein schwieriges Unterfangen, die Vorurteile gegenüber der Gattung Volkslied und Volksmusik einfach zu negieren, um den musikalischen Zugang zu ermöglichen, dem viele Menschen heute als Faszination schlechthin folgen.
Dr. Josef Pommer, der Begründer der österreichischen Volksliedforschung
Durch seine zahlreichen Leitartikel in der Fachzeitschrift „Das deutsche Volkslied“ sowie durch die methodischen Vorgaben in seinen bedeutenden Publikationen von erstmals aufgezeichneten alpenländischen Liedern und Jodlern wurde Dr. Josef Pommer zum Begründer der Volksliedforschung in Österreich. Auf der Grundlage des direkten Kontakts mit den Überlieferungsträgern, unter Auswertung ihres Wissens über die Traditionen des Singens und Musizierens und ergänzt mit archivalische Forschungen wuchs eine kaum überschaubare Materialfülle heran, welche heute den stolzen Bestand der Volksliedarchive in unseren Landeshauptstädten darstellt.
Der sammelnde und forschende Weg, der von Dr. Josef Pommer beschritten wurde, hat viele Nachfolger gefunden, deren wichtigste hier genannt seien: Anton Anderluh (Klagenfurt), Karl Emil Blüml (Wien), Hans Commenda (Linz), Hermann Derschmidt (Linz), Otto Eberhard (Salzburg), Ernst Hamza (Wien), Karl Horak (Schwaz), Karl Magnus Klier (Wien), Franz Friedrich Kohl (Traismauer), Georg Kotek (Wien), Karl Liebleitner (Wien), Konrad Mautner (Wien), Hans Neckheim (Klagenfurt), Helmuth Pommer (Bregenz), Viktor Zack (Graz), Raimund Zoder (Wien).
Diese sammelnden und forschenden Persönlichkeiten haben mit ihrem Sammelgut und Publikationen den Stellenwert der österreichischen Volksliedforschung in der Welt der Wissenschaft gefestigt und die inhaltliche wie formale Basis für die Gesamtausgabe der Volksmusik in Österreich geschaffen. Diesen Mitstreitern der Idee Dr. Josef Pommers ist zu danken, dass ab dem Jahre 1993 (also 75 Jahre nach seinem Tod) die Gesamtausgabe der Volksmusik unseres neuen Österreich „Corpus Musicae Popularis Austriacae“ (11) in Angriff genommen werden konnte. Prof. Walter Deutsch (derzeit Archiv des Österreichischen Volksliedwerkes, Wien) hat für dieses monumentale Werk die Verantwortung übernommen. Bislang sind 22 Bände dieser Edition erschienen. Es handelt sich um die Veröffentlichung der Archivbestände nach Gattungen, des Lied- und Tanzgutes einer Region (in repräsentativer Auswahl) oder einer in sich geschlossenen Individualsammlung.
Wir Österreicher haben wahrlich Musikgeschichte geschrieben. Was die Volksmusik betrifft wird ihr mit CORPUS MUSICAE POPULARIS AUSTRIACAE ein Denkmal gesetzt. Ihr zur Ehre und als Respekt gegenüber einer Musikgattung mit besonderer Vitalität. Neben seinem Sammeleifer hat Dr. Josef Pommer öffentlich bewiesen, dass das Singen des aufgezeichneten Liedgutes und das Musizieren aus den gesammelten Ländler- und Steirer-Spielheften ein neues musikalisches Empfinden weckt, das allemal ein besonderes Lebensgefühl vermittelt.
Wer aber – diese Frage muss ich Sie alle beantworten – wer ist heute zuständig für die Volksmusik in Österreich?
Wir alle haben es in der Hand, unseren eigenen Klangteppich selber zu knüpfen, ihn wegzurollen, neu aufzurollen oder ihn neu zu erfinden. Wir wissen ja längst: Sich selber als Instrument zu fühlen ist großartig. Die Kulturabteilung, die Universitäten und die Rundfunkanstalten – alle tragen ihren Teil zum Thema bei. Wir selbst aber sind die Verantwortlichen für die Verlebendigung.
Seit den späten Novembertagen des Jahres 1918 liegt Dr. Josef Pommer am Friedhof von Gröbming begraben. Er ruht unter einer schweren Grabplatte, die seinen Namen in zarten, aber großen Lettern trägt. Er ruhe sanft in alle Ewigkeit. Er ist vielen als ein gefährliches Irrlicht erschienen, von dem zuletzt das Licht geblieben ist – und nur auf dieses Licht kommt es an. Sein Name wird mit den damit verbundenen Leitideen auch in allen kommenden Forschungsprojekten und in der Pflege des traditionellen Lied- und Musikgutes Österreichs wirksam sein.
Zuguterletzt: Was kann das Volkslied dafür?
Das Volkslied kann gar nichts dafür, was ihm unterjubelt und überantwortet wurde. Es ist nach wie vor völlig unschuldig. Das Volkslied möge daher in allen nur möglichen Facetten alt und neu erklingen, um der puren Lustbarkeit willen und auch um der Bewältigung aller Nöte zu dienen – als Lebensmittel. Niemals aber in abschätziger Abgrenzung zu anderen Völkern und ihren Melodien. Es möge in aller Welt eine besondere Auszeichnung und Ehre sein, dem Eigenen und dem Anderen Raum zu geben. Möge das Volkslied forthin als Botschafter des gegenseitigen Respekts erklingen.
Verwendete Literatur:
- Das Kronprinzenwerk
Als Kronprinzenwerk wird allgemein die 24-bändige landeskundliche Enzyklopädie Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild bezeichnet, die 1883 vom österreichisch-ungarischen Kronprinzen Rudolf angeregt wurde. Die Beiträge wurden von 432 Mitarbeitern, darunter vom 1889 durch Suizid aus dem Leben geschiedenen Kronprinzen Rudolf selbst, verfasst. - Georg Ritter von Schönerer
Georg Heinrich Ritter von Schönerer (*17. Juli 1842 in Wien; †14. August 1921 auf Schloss Rosenau, Niederösterreich) war ein österreichischer Gutsherr und Politiker. Schönerer hatte von 1879 bis zur Jahrhundertwende Bedeutung als Führer zunächst der Deutschnationalen und später der Alldeutschen Vereinigung. Er war ein heftiger Gegner des politischen Katholizismus, ein radikaler Antisemit und übte starken Einfluss auf den jungen Adolf Hitler aus, der ihn als eines seiner Vorbilder ansah. - Das echte Deutsche
Iris Mochar-Kircher: Das „echte Deutsche“ Volkslied. Josef Pommer (1845–1918) – Politik und internationale Kultur, Frankfurt a. M. u.A., 2004
- Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes
Elsa Richar, geb. Pommer – ein Lebensbild. In: Jahrbuch des österreichischen Volksliedwerks 35 (1986), S. 121-122. - Österreichisches Musiklexikon
Gerlinde Haid, Christian Fastl: Pommer, Familie. In: Oesterreichisches Musiklexikon. Online-Ausgabe, Wien 2002 ff., ISBN 3-7001-3077-5; Druckausgabe: Band 4, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2005, ISBN 3-7001-3046-5. - 444 Jodler und Juchezer
Der Zeller Staritzer, Josef Pommer, 444 Jodler und Juchezer aus Steiermark und dem ostmärkischen Alpengebiet, Wien, 1901, Seite 193/194. - Auflistung seiner Publikationen
W (Hg. bzw. Bearb.): Liederbuch für. die Deutschen in Österreich 1884/51905; Jodler und. Juchezer, 3 Slgn. 1889/1893/1902; Dt. und. deutschösterr. Volkslieder f. Männerchor, 21 H. 1889–1903; Oberschefflenzer Volkslieder und. volkstümliche Gesänge 1902; Volksmusik der dt. Steiermark, 2 Bde. 31902; Einundzwanzig echte dt. Volkslieder. Bearb. von Friedrich Silcher 1906.Wegweiser durch die Literatur des Deutschen Volksliedes (entspricht Flugschriften und Liederhefte zur Kenntnis und Pflege des Deutschen Volksliedes, Teil 5), Wien, 1896 Das deutsche Volkslied, Zeitschrift, Erscheinungszeitraum 1899–1947 Das Volkslied in Österreich. Anleitung zur Sammlung und Aufzeichnung. Fragebogen, Wien, 1906 Über das älplerische Volkslied und wie man es findet. Plauderei (entspricht: Flugschriften und Liederhefte zur Kenntnis und Pflege des Deutschen Volksliedes, Teil 12), Wien, 1907 - Die Erk-Böhme Sammlung
Deutscher Liederhort ist der Titel einer großangelegten Volksliedsammlung, die als die maßgebliche Ausgabe deutscher Volkslieder gilt. Nach ihren Herausgebern wird die Sammlung oft auch einfach als „Erk-Böhme“ bezeichnet. - Zitiert in: Walter Deutsch und Eva Maria Hois: Das Volkslied in Österreich. Volkspoesie und Volksmusik der in Österreich lebenden Völker. Bearbeiteter und kommentierter Nachdruck des Jahres 1918 (= Corpus Musicae Popularis Ausstriacae – Sonderband), Wien 2004, S.
- Sonderband „Das Volkslied in Österreich“
Am Ende des Ersten Weltkrieges lag als Ergebnis der seit 1904 in allen Ländern der Monarchie durchgeführten volksmusikalischen Sammlung ein Probeband vor, der unter dem Titel „Das Volkslied in Österreich“ als Muster für Format und Schriftart aller zu edierenden Bände in deutscher, slawischer und romanischer Sprache dienen sollte. Der Zusammenbruch der Monarchie verhinderte dieses „Monumentalwerk“, das aus 60 Bänden bestehen sollte. Der Probeband enthält mehr als 150 Lieder und Tänze mit Melodien, zahlreiche Sprüche und Reime sowie 150 Abbildungen. In den einbegleitenden Texten des Jahres 1918 wird „Wesen und Eigenart des Unternehmens“ erläutert und mit dem Leitgedanken „Den Hauptinhalt des Werkes bildet das aus der lebenden Überlieferung geschöpfte dichterische und musikalische Volksgut“ wird das Ziel formuliert, das den Gelehrten aus Volkskunde, Musik und Sprachwissenschaft vorschwebte.
Anlässlich seines 100-jährigen Bestehens möchte das Österreichische Volksliedwerk diesen Probeband als kommentierten Neudruck der Fachwelt vorlegen, ergänzt mit entsprechenden Registern und beigefügter „Geschichte des Österreichischen Volksliedwerkes“.
Als wertvolle Quelle zur Volksmusikforschung im österreichischen Kaiserstaat soll dieser Sonderband nicht nur ein „Erinnerungsstück“, sondern auch dem wissenschaftlichen Diskurs der Gegenwart nützen. - Die COMPA Reihe
Das seit dem frühen 18. Jahrhundert gesammelte Musikgut wird nach bestimmten Kriterien ausgewählt und kommentiert. Überliefertes Liedgut und traditionelle Tanzformen werden im lebendigen Zusammenhang mit Brauchtum, mit dem sozialen Umfeld und den Überlieferungsträgern dargestellt. Die Reihe COMPA vermittelt also auch etwas vom Leben, in dem Volksmusik ihre inhaltliche, formale und funktionelle Prägung erfährt. Inhaltliche Voraussetzung für dieses große Werk sind die Kategorien der Volksmusik in Österreich: weltliches und geistliches Lied, Jodler, Instrumentalmusik und Tanz. Diese werden in Einzeldarstellungen oder als ausgewählte Erscheinungsformen einer Region (Landschaft) vorgelegt. Auch in den Bundesländern lebende anderssprachige Volksgruppen sind mit ihren Liedern und Tänzen vertreten. Wissenschaftler, Forscherinnen und Sammler in Zusammenarbeit mit den Volksliedwerken der Bundesländer und Vertreter öffentlicher und privater Sammlungen bilden die dafür notwendige Basis, das Ziel, ein großes, überregionales Nachschlagewerk zur Volksmusik in Österreich, in dem sich geschichtlich gewachsene Formen und gegenwärtige Erscheinungen zum Klangbild einer spezifisch österreichischen Musiksprache vereinen, zu verwirklichen.
Gedenkrede zum 100. Todestag von Dr. Josef Pommer, dem Begründer der Österreichischen Volksliedforschung. Evangelische Pfarrkirche Gröbming 11/ 2018; Pfarrbrief der evangelischen Pfarrgemeinde Gröbming, 88.Ausgabe, 1/ 2019; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.