Die Chancen der traditionellen Musik

Die Lebensgesetze traditioneller Musik verlangen nach einem Sonderstatus in der Frage der Weitergabe innerhalb der Generationen. Vorerst Kurzstatements zu den Fragen:

Warum unterrichten wir traditionelle Musik?
Wir
unterrichten nicht sondern spielen Vermittler, bringen Lehrlinge mit alten Meistern zusammen, regen die Weitergabe dieser Musik an. Wir glauben, dass man Volksmusik nicht verschulen sollte. Jede Festlegung von Unterrichtsmethoden widerspricht nämlich den Lebensgesetzen von traditioneller Musik. (siehe auch Rudolf Pietsch, Der Vierzeiler 13. Jahrgang 1/2 1993 und 21. Jahrgang 2/ 2001). Andererseits aber braucht auch traditionelle Musik eine Schiene im Kulturangebot.

Lässt sich traditionelle Musik so unterrichten wie andere Musik auch?
Musik ja, die Funktion von traditioneller Musik nein. Es sei denn, es genügen uns in Zukunft erstklassige Interpreten von traditioneller Musik. Schöner wäre es, wenn Menschen mit ihrer traditionellen Musik erstklassig leben können! Traditionelle Musik braucht nicht das Reglement des Lehrens, sondern pulsiert durch die jeweiligen Lebensumstände.

Welche Rolle soll das „Network of traditionell Music and Dance“ dabei übernehmen?
Förderung von Musik in der Familie, Begegnungsfelder schaffen, dazu Strukturen in kleinen Dorfgemeinschaften einrichten, traditionelle Musik gesellschaftspolitisch mitdenken. Vermittler-Institutionen stärker unterstützen, denn auch solche Konzepte der kleinen Qualitäten brauchen eine Vertretung.

Die Familie ist die erste Musik – Bildungsstätte

Die Situation in der Steiermark: Das Steirische Volksliedarchiv verfügt nicht nur über einen reichhaltigen Schatz alter und neuer Lieder, sondern ist darüber hinaus Forschungs- und Förderungsstelle für Volkslied und Volksmusik. Durch die gewonnenen Erkenntnisse setzen wir mehr denn je auf die Bedeutung der Überlieferung, auf „Musikübermittlung durch Zufall„

Durch diese jahrelangen Maßnahmen wurde zwar kein Schwenk des allgemeinen Musikgebrauchs in Richtung Volksmusik erreicht. Die sich neu entwickelten Erlebnisfelder für traditionelle Musik aber zeigen seit einigen Jahren keine Symptome der Verhärtung, Engstirnigkeit, Musealität mehr. Im Gegenteil: Die traditionelle Musik in der Steiermark hat an Lebendigkeit und Kreativität gewonnen. Berührungsängste mit anderen Musikgattungen wurden abgebaut.

Hat musikalische Tradition einen Stellenwert?

Unsere Welt ist so voll von Melodien und auch von Geräuschen. Es tönt tagaus – tagein, gleich einem Rundumschlag. Wer mag sich da verschließen; wer kommt ohne Melodien aus? Sind Melodien nicht die Kratzgeräusche einer bewegten Seele, ob nun Frohsinn oder Trübsinn die feinen Kräfte entstehen lässt? In Anbetracht dieser doch elementaren Bedeutung des hörbaren und unhörbaren Gesanges, der Höhen und Tiefen unserer Sprache, der Urlaute in unseren Ausrufen der Überraschung, der Bestürzung und Freude, erfährt das Thema „Singen„ eine neue Dimension. Singen ist zwar nur eine Sprache des Lebens. Ein Verstummen dieser Ausdrucksmöglichkeit bedeutet aber doch einen Verlust. Demnach kann nichts unversucht bleiben, jungen Menschen Lieder zu geben und sie zum Klingen zu bringen.

Freilich, den Schulen und Chorgemeinschaften fällt hier die Rolle zu, musikalische Fähigkeiten zu fördern und zum musischen Bildungsweg als ein so notwendiges Lebenselixier hinzuführen. Wir sollten nicht dazu neigen, die Verantwortlichkeit immer an die Schule abzutreten. Auch Tischsitten sind nicht in der Schule zu lernen, sie sind ein Ergebnis aus dem erlebten Gegenüber. Trotz des vielfältigen Mitsingangebotes in den Chorgemeinschaften, des Einsatzes didaktischen Liedgutes und der großen Auswahl an neu erdachten Liedern, verweisen wir allzu gerne auf das Singen als Folge der Nachahmung.

Die musikalische Kinderstube transportiert traditionelles Musikverhalten

Wir unterschätzen oftmals die Bedeutung dieser für das Kleinkind ersten erlebbaren Klangwelt. Lange vor dem „Melodiennachsingen„ wird mit gesummt und – mitgeklungen. Als Klangvorbilder gelten aber nicht nur die Mutter, sondern auch der Cassetten-Recorder und das Fernsehgerät. Beeindruckend ist die Exaktheit der Übernahme von Melodien durch Kleinkinder, die solcherart ihre erste Musikausbildung genießen. Später finden die Volksliedforscher bei den „Gewährsleuten„ die gefilterten Reste menschlicher Musikaufzeichnung. Wir nennen es dann Überlieferung oder einfach gesammelte Erfahrung.

Erlebnisfeld statt Lernanstalt

Ein Lehrling kann seinen Beruf nämlich durch Lehrbehelfe, ja sogar durch Fernstudium erlernen. Was der Meister und vorher der eigene Vater jedoch „tut„ und vorlebt, sogar kommentiert, ist nicht nur Abhandlung, sondern Handlung selbst – visuelles Erlebnis. Auch das farbig illustrierte Kochbuch ersetzt nicht die Erfahrung des Dabeiseins, wenn Vorbilder mit Fingerspitzengefühl die feinsten Gerichte herstellen. Liedgebrauch, z. B. des Vaters gepfiffene Melodie während der Arbeit hinter dem Haus ist die Kennung des Vaters, unverwechselbares Merkmal und somit Anlass zur Nachahmung. Musikalische Rituale sind Lebenshaltung und Auftrag, Bewährtes zu übernehmen, damit aber auch, sich der Kontrolle des Vorbildes zu unterwerfen.

Was für eine Forderung entsteht aus dem eben Gesagten?

  1. Wir sollten unsere kleinsten Feste in Familie und Nachbarschaft musikalisch bereichern. Dazu bedarf es keines vierstimmigen Satzes und keiner Stimmgabel, sondern der Kenntnis der richtigen Lieder für den jeweiligen Augenblick.
  2. Unseren „Erwachsenenfesten„ sollten Kinder nicht ferngehalten werden. Erwachsenwerden beginnt mit dem Eintritt ins Leben. Weisheiten, Redensarten und auch alte Lieder müssen mitwachsen. Dabeisein bedeutet viel.
  3. Stundenfüllende Kinderprogramme und das Abliefern der Kinder in eigens dafür reservierten „Ecken„ während eines Familienfestes (Hochzeit) ist zwar bequem, aber eine sehr bewusste Ausschaltung des Überlieferungs-Vorganges. Traditionelle Musik ist eine Frage der Familienpolitik. Singen, so meinen wir, gehört zur Grundausstattung des Menschen, und der Eintritt in den Kinderchor kann die Gepflogenheit des Liedgebrauches in der Familie nicht ersetzen. Wir neigen heute allzu gerne dazu, die mitgebrachte Grundausstattung in Freizeitprogramme (Kindervolkstanz, Kindervolksmusik, Kindervolkslied) umzuwandeln, Neigungsgruppen zu bilden, anstatt sie im Leben selbst anzuwenden. Das Unverständnis, mit dem die etablierte Hochkunst der musikalischen Grundausstattung und somit dem Gebrauchssingen begegnet, veranlasst uns, auf Musikleben und Musikerleben noch vor dem Schulbildungsweg und außerhalb der Ensemblebildung hinzuweisen. Liedbesitz als Erinnerung einer erleben Kinder-Klangwelt ist eine unwiederbringliche Gefühlsspeicherung, ein Sprachrohr der Seele. Jede Form der hohen Kunstmusik profitiert von diesem „musikalischen Fußbad„, auf das nicht oft genug hingewiesen werden kann.

Beitrag für „Network of traditionell Music and Dance“, 1/ 2009; Mitarbeit und Endredaktion durch Angelika Schwab, Zuzana Ronck und Wolfram Märzendorfer; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.