Liebes Christkind!

Es ist schön, dass es Dich gibt und zwar so, wie ich Dich seit meiner Kindheit in meinen Gedanken habe. Ich weiß auch, dass sich jeder Mensch ein anderes Bild vom Christkind entwirft.

Das ist gut so. Manche stellen sich einen Engel vor! Ja, Du wirst sicher darüber lachen müssen, wenn Du Dich in den Regalen der Kaufhäuser wiederfindest, mit Glitzerglanz und seidenen Flügeln.

Heute bist Du für viele Überraschungen zuständig, für kleine und große Geschenke. Das haben Dir die Menschen angedichtet. Denn ursprünglich – schon zur Biedermeierzeit – war der Heilige Nikolaus der Gabenbringer für die Kinder. Das ist er ja auch heute noch, mit Apfel, Nuss und Mandelkern.

Dein Sinnbild, liebes Christkind, wurde inzwischen aber kräftig missdeutet. Verzeih, so sind wir Menschen eben. Sich gegenseitig Gutes tun, wie Du es meinst, hieße ja ganz einfach, sich die Hände reichen, jemanden unter die Arme greifen, Freud und Leid teilen. An Haushaltsgeräte und Computerspiele hast Du sicher nicht gedacht.

Eigentlich war es so, dass Martin Luther Dich in der Reformationszeit als Ersatz für den katholischen Nikolaus eingeführt hat. Du wurdest damals als ein engelgleiches Wesen in lichtdurchwirktem Gewand gesehen, welches von Luther auch als „der heilige Christ“ bezeichnet wurde. Und dann bist Du, liebes Christkind, etwa um das Jahr 1800 als heimlicher Gabenbringer am Weihnachtsabend des 24. Dezember ins katholische Österreich gekommen. Zuerst wurdest Du im städtischen Bereich heimisch, nach und nach hat Dich auch die ländliche Bevölkerung zu ihrem Christkind gemacht.

Du wurdest auch nicht immer mit dem Jesuskind in der Krippe gleichgesetzt. Man hat Dich sogar teilweise mit den engelhaften Figuren der mittelalterlichen Krippenspiele in Verbindung gebracht. Ist das nicht wunderbar, wie wir Dich schön langsam zu einem fixen Bestandteil unseres Lebens gemacht haben?

So sind wir Menschen eben: Wir suchen allzu gerne Symbole, an denen wir uns orientieren. Du sollst nicht glauben, dass wir deshalb oberflächlich sind. Mitunter bist Du, liebes Christkind – gleichgültig welche Geschichte die Menschen mit Dir verbinden – Anlass für das Innehalten und sich Besinnen. Gerade in diesen dunklen Tagen mit den langen Nächten, wächst ja die Sehnsucht nach einem höheren Sinn und auch nach einem neuen Erwachen der Natur. Weißt Du, warum Weihnachten für uns eine besondere Bedeutung hat? Weil sich die Geburt Christi, die Kalenderjahreswende und die Wintersonnenwende treffen.

Für mich bist Du eigentlich das Jesuskind und ich denke zu Weihnachten an Deine Geburt, an all das, was Du seither auf Erden bewegt hast. Ich gebe schon zu, dass bei uns in der Familie das Schenken auch nicht nur „Gutes tun“ heißt. Da gibt es auch eine Menge Geschenkpapier und Maschen in allen Farben. Es fällt uns halt schwer, der Üppigkeit die Bescheidenheit entgegenzustellen. Mitunter verdecken all die Gaben das eigentliche Ereignis in der Krippe zu Bethlehem. Deshalb: Ohne innere Erneuerung und ohne Besinnung auf das Wesentliche wäre Weihnachten kein besonderer Termin für mich. Ich denke, ich rede da für viele andere Menschen auch.

Liebes Christkind! Du bist wohl selbst überrascht, welche Symbolik wir dem großen Fest seit vielen Jahren geben, wie sehr wir Weihnachten mit Lichterketten und schönen Zeichen ausstatten. Ein gutes Beispiel ist der Weihnachtsbaum! In früheren Zeiten haben wir grüne Zweige in die gute Stube geholt. Und im Elsass gibt es bereits seit dem 16. Jahrhundert Vorboten des Christbaumes. Dieses schönste weihnachtliche Symbol kam erst viel später zu uns nach Österreich: Es ist ein Kind des Biedermeier, genauer gesagt, des Wiener Kongresses 1814-1815.

Heute ist Weihnachten ohne Christbaum undenkbar, ebenso gehören Glanz und Glitzer, Spritzkerzen und Zuckerwerk dazu. Ich weiß, Du bist so gütig und siehst über das alles hinweg. Wir ahnen es ja: Es sind lauter dekorative Beigaben, alle Spuren aber führen zu Dir.

Es ist Weihnachten, wenn wir zu Hause zusammenrücken, wenn wir die Wärme und den Duft von Reisig und Kerzenwachs genießen. Der Adventkranz – der eine eher junge Geschichte hat – bringt diese Stimmung ins Haus. Auch er verdankt sein Entstehen der Gepflogenheit, sein Heim mit lebendigem Grün zu schmücken. Die vier Kerzen aber stehen für die vier Adventsonntage. Seine Geburtsstunde haben wir Menschen schon längst vergessen. Du aber hast sie sicher in Erinnerung: Im Jahre 1838 hat der evangelische Theologe J. Hinrich Wichern in Hamburg als Erster einen solchen grünen Kranz gebunden. Dieses vorweihnachtliche Symbol hat der Kirchengemeinde außerordentlich gut gefallen, und so wurde es zum alljährlichen Brauch.

Zu uns kam der Adventkranz erst nach dem Ersten Weltkrieg. Er ist ein schönes Zeichen und keine Familie möchte heute auf ihn verzichten.

Wenn es dunkel wird, gehen wir allzu gerne auf den Christkindlmarkt. Siehst Du, heute sind sogar die Märkte nach Dir benannt. Dabei verlegen die Kaufleute ihre Ladentische auf den Marktplatz und bieten Waren feil. Mein Gott, so viele verschiedene Süßigkeiten, Kerzen und Christbaumkugeln! Und dazu der heiße Punsch! Da bleibt vor lauter Heiterkeit der gute Stern unbeachtet, der sich zwischen den Giebeln ganz deutlich abzeichnet.

Du magst Dich wohl wundern über so viel Unachtsamkeit. Wir haben verlernt, die Zeichen richtig zu deuten und sind gleich einmal ungeduldig, wenn wir auf unsere Fragen keine Antworten erhalten. Und eine dieser großen Fragen wird wohl immer bleiben: Es ist uns allen ein Rätsel, wie Du all`die Wünsche erfüllen und überall gleichzeitig sein kannst. Meine Schwester glaubt, weil Du durch die Lüfte fliegst. Mein Bruder aber meint, Du benützt manches Mal einen Schlitten, dann wieder einen Tretroller. Und mein Freund behauptet, dass du durchaus auch auf dem Wasser unterwegs sein könntest – und dass Du sicher nicht alles alleine machen kannst.

Ich denke auch, Du brauchst verlässliche Mitarbeiter, oder? Heute begegnet uns überall der drollige Mann. Einsmal aufgeblasen über dem Kaufhaus, ein anderes Mal als Schokoladenfigur, dann wieder als aufziehbare Puppe. Wir Menschen haben da viel Fantasie…

Aber Dich kann man nicht ersetzen – Du bist und bleibst unser Weihnachts-Christkind. Wenn wir Menschen älter werden, dann verblasst auch die Vorstellung, die wir von Dir haben. Kinder aber sind Dir allzeit ganz nah auf der Spur. In der Schulzeit etwa, da lernten wir ein Weihnachtsgedicht. Es begann mit den Worten…

Markt und Straßen stehn verlassen,
still erleuchtet jedes Haus,
sinnend geh ich durch die Gassen,
alles sieht so festlich aus…

Joseph von Eichendorff

Es ist mir noch heute im Gedächtnis. Damals aber habe ich mir eingebildet, Du, liebes Christkind, gehst durch die Gassen, blickst durch die Fenster, bist mir ganz nahe. Es war mir unbegreiflich, wie Du es schaffst, in jedem Haus zu sein und noch dazu in allen Herzen.

Ja, heute glauben wir, alles wissen zu müssen, um glücklich zu sein. Und immerzu überlegen wir, was wir alles brauchen, um es uns von Dir zu wünschen.

Du bist nach wie vor geheimnisvoll. Bleib so! Nicht nur ich, sondern viele meiner Freunde und viele Kinder benötigen heute ein hilfreiches Maß an Ungewissheit, um so manche rauhe Wirklichkeit besser bewältigen zu können.

Was sollen wir uns von Dir wünschen? Es ist ja so einfach: Von Dir, liebes Christkind, brauchen wir nur eine Ahnung haben. Oft schau ich in den Sternenhimmel und denke mir, dass Du irgendwo da oben zu finden bist. Aus den Sternenbildern, aus dem himmlischen Licht- und Schattenspiel ergeben sich dann seltsame Gebilde und Formen. Da habe ich dann Lust, mein eigenes Christkind zu entwerfen…


Eine Kurzversion dieses Weihnachtstextes wurde in der Kolumne „Wie das Leben so spielt, in Die Steirische, Graz 2002 veröffentlicht. Der ausführliche Text erschien als Buch „Das Christkindl Geheimnis“ im Verlag Weishaupt, Gnas, 2004; Der Text bezieht sich auf die Grafiken des Malers Hermann Härtel, Wien; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.