Volksmusik und Schule?

Ein Plädoyer für den Lebenslehrgang

Musik beherrscht unser aller Denken, so dass wir, geblendet vom Mythos der Kunst der Künste, dem Fundament, nämlich der Umwandlung von der Befindlichkeit ins Klangereignis kein Augenmerk schenken. Die Kunstmusik lebt auch vom Flair der prachtvollen Häuser und dem präsentieren der ausgewählten Garderoben. Und die Volksmusik?

Auf dem Weg zum Erklingen gibt es so etwas wie das Verweilen im Foyer. Und weil ich das Singen gerne in den Mittelpunkt von Volksmusik – Überlegungen rücke: Singen erfolgt, nachdem wir uns alles gesagt haben. Es ist eine Erhöhung des kommunikativen Tuns und immer eine Folge von etwas. Ich gebe den guten Rat, zunehmend für diesen Teil, nämlich der Ouvertüre zum Singerlebnis Persönlichkeitsbildung anzustreben, den Mitarbeitern zu lernen mit allen Sinnen die Startbahn anzulegen auf der Musik abheben kann.

Der Bildungsweg und der Abstand zur Realität

Es wird in der Menschheitsgeschichte immer wieder zum Irrglauben kommen, dass man sich etwas schneller aneignen kann, als es einem zusteht. Dass man Prozesse der Entwicklung umgehen könne. Diese Ungeduld ist Schuld daran, dass wir uns selbst aus der Bodenhaftung lösen, um uns absichtlich, in der Hoffnung auf Beschleunigung, dem Verstandesmäßigen zuzuwenden bzw. das Verstandesmäßige keiner weiteren und über lange Zeit andauernden Überprüfung unterziehen. Die Verschriftlichung und Verbildung unseres Lebens endet damit in einem spürbaren Abstand zur Realität. Mit intellektuellem Gehabe wird versucht, diese Kluft zu überwinden. Instinkt und Imagination führen dagegen ein verkümmertes Dasein, denn: Der Bildungsweg ist nach wie vor das allgemein gültige Rezept und es werden immer effizientere Methoden erfunden, um möglichst rasch jenen Bildungsstand zu erreichen, der uns eine Position in der Gesellschaft beschert und die Unebenheiten auf dem Wege zur erlebten und zeitraubenden Erkenntnis ausgleicht. Es ist das Auseinanderklaffen dieses Bildungsniveaus zur brauchbaren Lebensreife, die zu kritisieren ist. Dies trifft wohl auch auf andere Lebensbereiche zu. Im Musikbereich geht es um die hörbare Variante dieses Zustandes. Die Menschen haben für die in Ungeduld entstandene Abkoppelung des Geistes ausdrucksvolle Worte erfunden: Sie reden von Halbgebildeten, Obergescheiten oder von Kopflastigkeit.

Warum nicht die Lehre daraus ziehen?

Was die Fachsprache mit fächerübergreifend, bzw. mit interdisziplinär beschreibt, ist das Bemühen, die Bildungseinbahn nicht zuzulassen und sich mit anderen Perspektiven den Über – Blick zu verschaffen. Unser Bildungssystem hat es übrigens notwendig, solche Programme des Zusammenwirkens von Erfahrungen und Erkenntnissen zu formulieren. Hingegen war in früheren Epochen der Menschheitsgeschichte und bis heute in Bereichen der selbsterwählten Einsiedelei die Vernetzung aller neuen Erkenntnisse mit jenen bereits gewonnenen, die enge Bindung zwischen Lebensweise und Lebensumfeld, zwischen Neigungen und Notwendigkeiten eine der wichtigsten Voraussetzungen für das Überleben schlechthin. “Die Lehre daraus ziehen” war das einzige Bildungskonzept und im Gegensatz zu heutigen gesetzlichen Verordnungen ein ungeschriebenes Gesetz.

Es gibt also auch eine Bildung, die nicht auf dem vorgefertigten Bildungsangebot fußt, sondern dem Zusammenleben entspringt, Situationen durch die man hindurch muss, Erfahrungen die man gemacht haben muss und Dinge für die man Lehrgeld bezahlt haben muss. Wesentlich dabei ist nicht sosehr das angehäufte Wissen, sondern die dabei gemachten Fehltritte, die ständigen Korrekturen für die wir nach und nach einen Tastsinn (Gefühl) entwickeln. Es seien hier genannt: Jene Herzensbildung, die der Abhängigkeit voneinander und der Begegnung entspringt und jene Bildung, die die Summe der Lebenserfahrung darstellt. Aber auch alles Sinnliche, die Klugheit, handwerkliche Fertigkeiten und künstlerische Ausdruckskraft können uns auch das Leben lehren, wenn wir uns einlassen, es zulassen dürfen, wollen oder in besonderen Situationen einfach müssen. Ich erinnere mich an Gewährsleute die auf die Frage nach dem Grund ihrer Singerei meinten: „I woas nimma wia des zuagångan is, då bin ich einigschupft wordn“. Das Leben lehrt uns also vieles, wenn wir auch eine Zeitspanne als Lehrzeit einplanen dürfen.

Wir befinden uns mit dem Hinterfragen der Entwicklung der Volksmusik in einem Nachziehverfahren, denn das Bildungssystem hat im Bereich der Volksmusik – Vermittlung längst Fuß gefasst. Zur Freude der Volksmusikfreunde wurde eine höhere Ebene für die Volksmusik – Lehrjahre eingerichtet. Und da gibt es viele Stimmen dafür und dagegen, logische und unlogische Standpunkte. Es spielen auch existentielle Gründe und eitle Hintergründe mit. Ich habe meine Bedenken zur Verschulung der Volksmusik schon vor Jahren formuliert, habe seinerzeit einen Kommentar über einen solchen Volksmusik – Studienplan – so aus dem Bauch heraus – abgegeben. Dazu aber später. Heute erfahren wir, dass die damals geäußerten Bedenken gerechtfertigt waren. Gleichwohl: Den Modellen der traditionellen Überlieferung hat man ein Ausbildungsschema dazugestellt, das sich an jenes der Kunsthochschulen anlehnt und natürlich unterordnen muss. Man ist zwar bemüht, den Lebensgesetzen der Volksmusik wird dabei aber kaum Rechnung getragen.

Die Frage ist daher durchaus berechtigt: Was hat uns dieser Weg gebracht? Den Zugang zur Volksmusik über den Bildungsweg und damit auch den besseren Zugang zu den Medien, denn wir spielen jetzt professionell Volks. Die Salonfähigkeit der Volksmusik ebenso wie die Vereinheitlichung, die Reduzierung auf Musik, auf ein Genussmittel, dessen Üppigkeit und ständige Präsenz uns noch einmal nach einem eigenen Gattungsbegriff rufen lassen wird. (Etwa nach „Freizeitmusik“) Früher bestand der Leistungsnachweis der Pädagogik in der Anwendbarkeit, in der Brauchbarkeit. Die Gegenwart bringt die Evaluierung als Leistungsnachweis, der führt über die Medien scheinbar am wirkungsvollsten. Dieses ganze Volksmusik – Bildungssystem ist – auch wenn dieses Ziel nicht angestrebt wurde und wird – unweigerlich, nämlich von seiner schulinternen Konzeption her, darauf ausgerichtet zu spezialisieren und zu verfeinern, in die Öffentlichkeit zu treten, dem Konzertbetrieb Nachschub zu liefern, über Qualität und Quantität ein „Mehr“ an Volksmusik zu erreichen. Dies ist auch gelungen. Wo bleibt da die andere Qualität von Volksmusik, die unserem Leben und dem Erleben dient, die uns nicht vordergründig sondern selbstverständlich, quasi als Lebensmittel unsere Spanne des Daseins bereichert? Die uns eine abendfüllende Möglichkeit bietet, gleichsam im eigenen Tongemälde die Hauptrolle zu spielen, das Miteinander und die Zuneigung selbst zur Virtuosität zu steigern? Die uns ohne Etikette und ohne Volksmusiker sein zu müssen den spielerischen Zugang zu jeder Art Musik erleichtert. Es ist nicht purer Pessimismus der mich hier verleitet, gegen die Verschulung der Volksmusik aufzutreten. Die Leere, die mancherorts entstanden ist, soll uns eine Lehre sein …

Diese heftige Kritik verlangt nun aber auch nähere Betrachtung, denn die pauschale Infragestellung von Bildungseinrichtungen, die ihrerseits natürlich als endlich erreichter höherer Standard gelten, kann leicht als Selbstschutz des Laienhaften entlarvt werden. Warum aber soll – so frage ich mich – das Laienhafte nicht auch schutzbedürftig sein? Ist das nicht die Aufgabe der Pfleger? Ist nicht gerade im Bereich der brauchtümlichen und auch handwerklich betriebenen Musikausübung der Laie der eigentliche und gefragte Spezialist? Was hat der Pfleger eigentlich zu tun, wenn es schon 5 Profi – Volksmusik – Ensembles im Ort gibt? Gibt’s da nicht doch auch Herrn und Frau Normalverbraucher mit musischen Bedürfnissen die klingen wollen?

Notwendig ist in diesem Zusammenhang die Betrachtung der historischen Entwicklung der Musikausbildung, das Hinterfragen ob die Volksmusik – Lehrplan – Inhalte mit den Lebensgesetzen der Volksmusik einigermaßen übereinstimmen, ob die Volksmusikpflege von der Bildungsschiene bereits abgelöst wurde? Vielleicht ist es aber ganz anders: Vielleicht ruft der solchermaßen beschrittene neue Bildungsweg noch mehr als bisher die Volksmusikpflege auf den Plan, um den einstudierten musikalischen Fertigkeiten eine Verknüpfung mit den Lebensnotwendigkeiten anzubieten.

Allgemeines über das Bildungswesen

Es lohnt sich auch, – ohne unsere Volksmusik immer im Blickwinkel zu haben – die Entwicklungsgeschichte des Bildungswesens zu studieren und sich mit der Geschichte der Kritik an diesem Schulsystem zu befassen. Es gibt erstaunliche Parallelen zu unserem Problem und immer wieder wird in Frage gestellt, ob vorgegebene schulische Normen immer geeignet sind, um einem besseren Leben und Zusammenleben zu dienen. Es fällt auf, dass vor allem nach 1968 mehrere Reformer mit Publikationen in Erscheinung treten. (1) Ich zitiere einige Kernsätze: „Bildung ist nicht Schulbildung“, „In keinem heiligen Buch steht, dass Erziehung in einem Raum mit Stühlen stattfinden muss“. Und ein anderes Zitat: „Kurzum – wir können die Schule abschaffen oder wir können die Kultur entschulen“. Die Buchtitel alleine sind auch aussagekräftig: „Das Ende der Erziehung“ „Bildung ohne Schule“ „Entschulung der Gesellschaft“; und neueren Datums: „Schaffen wir die Hauptfächer ab“. Den Pädagogen werden diese Ansätze nicht unbekannt sein. Sie sind allerdings auch nicht der Weisheit letzter Schluss!

Was Not tut, ist nicht sosehr das Überbordwerfen des Bildungssystems mit allen seinen humanistischen Vorsätzen, sondern das Einsetzen von Augenmaß und das Abschiednehmen von der Vorstellung des flächendeckenden Verbesserns dieser Welt mittels Bildungskonzepten. Gefordert ist ein Augenmaß zwischen Lernprozessen die in Semestern  messbar sind und jenem Lernprozess, der in Jahren – wenn sie wollen in „Sylvestern“ – die Fülle an Lebenserfahrung darstellt.

In Anbetracht der hier sicherlich von Kollegen ausführlich behandelten historischen Hintergründe des Volksmusik – Ausbildungswesens möchte ich eher die Lebensgesetze der Volksmusik ins Spiel bringen und zugleich versuchen, die Diskrepanz aufzuzeigen, warum die Zielrichtung von Kunsthochschulen mit der Förderung der Volksmusik nicht harmonieren kann. Der Begriff „Lebensgesetze“ im Zusammenhang mit Volksmusik wurde von Felix Hörburger (2) geprägt. Er beschäftigte sich übrigens speziell mit diesem Thema, zeigt die besondere Lebenswelt von Volksmusik auf. Seine Erkenntnisse geben weitgehend die Antwort auf die hier gestellten Fragen.

Was ist dran an der Bildungs- – Volksmusik

Ich gehe ins Detail: Volksmusik hat von ihrer Struktur her eigene Gesetzmäßigkeiten in Abgrenzung zur Musik der Hochkunst. Volksmusik und die Musik der Hochkunst schließen einander nicht aus, sondern benötigen die gegenseitige Existenz. Beurteilungs- und Wertmaßstäbe, die an die einzelnen Musikgattungen anzulegen sind, differieren und sind bei seriöser Betrachtung und Behandlung entsprechend zu berücksichtigen. Hauptunterscheidungsmerkmal zur Hochkunst liegt auch in der Überlieferung der Musikgattung Volksmusik. (3) Die vorwiegende Mündlichkeit bewirkt großen Variantenreichtum der einzelnen Subgattungen, es kommt zu mehr oder weniger ausgeprägten Regionalstilen. Dass die mündliche Tradierung zunehmend von der Schriftlichkeit abgelöst wird, tut dem keinen Abbruch, weil die brauchtümliche Verwendung Adaptierungen fördert. Besonders die Tatsache, dass Volksmusik im Kontext von Brauch bzw. Funktion zu sehen ist, unterscheidet diese von der Musik der Hochkunst. Klischeehafte Behandlung von Volksmusik, wie etwa die Behauptung, sie müsse falsch, fehlerhaft oder mangelhaft interpretiert sein, aber ebenso Erscheinungen von vordergründiger Virtuosität entsprechen nicht den Lebensgesetzen von Volksmusik, sind ihr vielmehr abträglich.

Aufgrund der anders gelagerten Voraussetzung von Volksmusik und insbesondere deren Vermittlung, ist ihre Einbeziehung in das klassische Schulmusikprogramm mehr als problematisch. Freiheit und Vielfalt wird bereits durch Uniformierung des Unterrichtsplanes stark eingeschränkt. Durch den im Unterrichtsplan vorgeschlagenen oder festgelegten Weg besteht die Berechtigung von der Gefahr zu sprechen, dass es zu einer Nivellierung in der Volksmusiklandschaft kommt, in deren Folge traditionelle volksmusikalische Elemente und Formen verdeckt oder neue Entwicklungen behindert werden. Umgekehrt trägt auch im Vergleich mit pädagogischen Studien anderer Instrumente ein „Studiengang für Volksmusiklehrer“ nicht gerade zur Hebung des musikalischen Niveaus bzw. des Gleichheitsprinzips bei: Die mitzubringenden Voraussetzungen zum Studium eines Streichinstrumentes sind ungleich höher als jene für Knopfharmonika oder Hackbrett. Bei diesen fehlt selbstverständlich das breite Literaturspektrum, das etwa beim Violin- oder Klavierstudium zu beherrschen ist. Näher möchte ich auf diese Problematik nicht eingehen – hier gibt es Berufenere. Trotzdem einige Stichworte:

1) Ein Studiengang für Volksmusiklehrer darf nicht nur auf bestimmte, derzeit als Volksmusikinstrument beliebte Instrumente abzielen.

2) Meist wird eine Aufsplitterung auf viele Instrumente angestrebt. Dies erscheint zwar im Sinne der Vielfalt der Volksmusik sinnvoll. Die Grundkonzeption der Hochschule sieht jedoch eine profunde Kenntnis zumindest eines Instrumentes vor, das im Hinblick auf Historie sowie Anwendung in allen Stilrichtungen unterrichtet wird. Das müsste nach sich ziehen: Die Ausbildung auf der diatonischen Harmonika müsste auch das Erlernen der Spieltechniken des Akkordeons, der Concertina, der chromatischen Knopfharmonika u.s.w. beinhalten.

3) Der Begriff „Volksliedchor“- im Studienplan und Studienziel – bekommt einen unbegründet hohen Stellenwert. Chöre können Volkslieder zwar interpretieren oder imitieren. Das Volkslied ist aber vorerst kein Chorlied. Die chorische Interpretation ist als nur eine von mehreren Möglichkeiten zu sehen. Das Chor – Volkslied  unterscheidet sich nicht nur im Repertoire, sondern auch in der Singtechnik und vor allem durch den Gebrauch. Ein Beispiel: Niemand würde im Streichquartett gespielte und klassisch interpretierte „Steirische Tänze“ im Fach „Volksmusik“ akzeptieren. Deshalb sind, was das Volkslied betrifft, Unterrichtsblöcke wie etwa „Das Volkslied, der Jodler in Kleinstgruppen“, der Einbau von Gewährsleuten in den Unterricht, Transkription von Feldaufnahmen, Übung mündlicher Liedvermittlung gefordert.

4) Es fehlt meist das Wort „Feldforschung“ in den Unterrichtsplänen und damit das Vermitteln von Respekt vor dem Vorhandenen und der Kenntnis des Vorhandenen. Dasselbe gilt für die Akzeptanz anderer Stilrichtungen und Entwicklungen. Eine im Unterrichtsplan vorgeschlagene Abgrenzung der „echten Volksmusik“ von der „unechten Volksmusik“ kann nicht Aufgabe eines solchen Lehrganges sein. Es muss vielmehr die Absicht sein, die Musikgattung Volksmusik aus einer Überschau erkennbar zu machen. „Der volkstümliche Schlager“ und etwa „Folkmusik“ gehören im Unterrichtsplan behandelt und nicht aussortiert.

5) Um den Einstieg in den Gebrauch von Musik zu ermöglichen fehlen Hinweise auf „Musik im Brauch“, praktische Übungen (Neujahrlied, Hochzeitslied, Gstanzl etc.). Weitgehend wird dem instrumentalen Können Vorrang gegeben. Zum geselligen Anwenden muss der Gesang (des jeweiligen Instrumentalisten) zu seiner Harmonika, zur Geige, zur Zither etc. unterrichtet werden.

6) Musik zum Tanz und nicht nur zum Anhören! Die mir bekannten Konzeptionen sehen zwar eine starke Verbindung zwischen Volksmusik und Volkstanz vor, dies geht bis zur parallel möglichen Ausbildung zum Tanzleiter. Die gegenwärtige Volkstanzpflege kann natürlich ein Thema sein. Trachtenpflege und Volkstanzpflege in Zusammenhang mit volksmusikalischen Fertigkeiten zu sehen, basiert aber auf veralteten wissenschaftlichen Grundlagen, dienen der Pflege historischer Formen in künstlicher Beharrung. Es müsste uns gehen um: Kenntnis des funktionalen Ablaufs vergangener und gegenwärtiger Tanzsitten sowie um das wichtige Thema „Tanz als Kommunikationsmittel“. Der Zusammenhang zwischen Musikerzeugung und Körperbewegung muss hergestellt werden, Veranstaltungskultur könnte ebenso ein Thema sein. Künftig „gelehrte“ Volksmusikanten müssen befähigt sein, den Bedarf an Geselligkeit abzudecken, Musik im Leben einzubauen, dies hieße auch, die jeweilige Musik ihrer Zeit spielen zu können. Eine Spezialisierung auf sogenannte „Grundtänze“, wie sie in Tanzgemeinschaften genannt werden ist nicht sinnvoll.

Was bleibt auf der Strecke?

Das Ansinnen, den bis vor wenigen Jahrzehnten ausschließlich spielerisch und im selbstverständlichen Weitergabe – Ritual betriebenen Vermittlungsprozess in die Bildungsschiene einzubauen, ist vermessen. Die Einmaligkeit des heute erlebbaren musikalischen Erbes dokumentiert durch unzählige Sonderformen und Regionalstile verdanken wir nämlich

°dem instinktmäßigen Umgang der Menschen mit ihrer Musikalität

°der personellen Eigenheiten

°den regionalen Gepflogenheiten

°einem außerhalb des musikalischen Bildungsweges entstandenen hochentwickelten Dilettantismus.

°den Zufällen

Nun mögen die Konzepte der bisher etablierten Ausbildungsschienen durchaus verschieden sein. Ein Teil der Wesenszüge der Volksmusik bleibt auf der Strecke, wenn auf der anderen Seite Virtuosität und Interpretation zum alleinigen Inhalt werden. Die Selbstzufriedenheit der Volksmusikpflege in Anbetracht der Einschaltziffern, der tausendfachen Tonproduktionen und der Konzertangebote ist angesichts der Reduzierung der einst so großartigen lebensnahen Volksmusik auf Musik alleine nicht angebracht. Es gibt immer mehr Pflicht erfüllende Notenumsetzer. Alles wird nur mehr gedacht und nicht mehr gefühlt. Mit G`fühl volksmusiziert – wie man es oft formuliert hört – beschränkt sich leider nur auf überzogene Punktierte und die entsprechenden Kopfbewegungen, leider nicht auf die Beziehung zu den Tanzenden, zu Ort und Zeitpunkt, zur richtigen Auswahl der Melodien. Die entstandene Leere lässt den Ruf nach mehr Sinnlichkeit, aber auch nach mehr Lebensnähe und Praxisbezogenheit laut werden. Es wird von der Verhirnung der Musik gesprochen – zwar in der Kunst und Popularmusik, doch wäre dies für die Volksmusik eine noch größere Katastrophe. Die Annäherung der Volksmusik an die Kunstmusik bewirkt, dass Volksmusik keiner unmittelbaren, d.h. lebensnahen Kritik mehr ausgesetzt ist. Maßstäbe sind nicht mehr die Brauchbarkeit, Verfügbarkeit, Kenntnis der regionalen Eigenheiten. Man überlässt den Wettbewerbsjuroren oder den CD-Verkaufsziffern das Urteil, vielfach entfällt Kritik und niemand wird daran erinnert, wo der eigentliche Wettbewerb für Volksmusik stattfindet – im Leben nämlich.

Lebensmittel oder Genussmittel

Wenn ich Ihnen neben dem Genussmittel Volksmusik vor allem das Lebensmittel Volksmusik ans Herz lege, dann bedarf es dazu folgender Erklärung:

Lebensmittel: Die Reduziertheit auf das notwendige Maß an musikalischen Fertigkeiten, und doch die eindrucksvolle Ausprägung der so entstehenden Musik, vor allem aber die Bedeutung dieser klingenden Alltagssprache im Leben selbst. Als Lebensmittel bezeichne ich diesen Gebrauch von Volksmusik deshalb, weil hier auch die Bedeutung zurechtgerückt wird. Sie – die Volksmusik spielt eine untergeordnete Rolle, sie wird nicht zum alleinigen Inhalt, zur Lebensphilosophie einer Neigungsgruppe, zum Accessoire. Sie ist der schönere Alltag.

Beim Genussmittel stehen das Klangergebnis im Vordergrund und damit auch die Karriere der Interpreten, die ihre Absichten auch artikulieren. Es entstehen Wertungen, Wettbewerbe, krampfhafte Verpflichtung dem Original gegenüber oder aber krampfhafter Zwang zur Überzeichnung und innovativen Veränderung. Hier ist auch der Ansatzpunkt für alle ideellen und ideologischen Nuancen.

Aufgaben künftiger Volksmusikpfleger?

Nun ist natürlich das gegenseitige Ausspielen zwischen dem Genussmittel und dem Lebensmittel nicht ganz richtig. Auch Lebensmittel gereichen zum Genuss, wenn die elementaren Bedürfnisse nicht anders übersättigt wurden. Und auch Genussmittel sichern, wenn ausschließlich nur sie zur Verfügung stehen, das Überleben. Im Raum steht aber die Frage nach den künftigen Aufgaben der Volksmusikpflege. Vermehrt muss sie sich anscheinend um die Vermittlung von Lebendigkeit, um das Lebensmittel bemühen und ich empfehle hier einige grundsätzliche Überlegungen zu beachten:

Der Wettbewerb findet im Leben statt. Anerkennung und Ablehnung sind eine Frage der Begegnung und nicht einer Jury zu überlassen. „Musikant werden“ ist ein Prozess.

Alles Geniale auf diesem Gebiet entsteht aus dem Respekt vor dem bisher geleisteten. Es ist dafür zu sorgen, dass durch Öffentlichkeitsarbeit, bibliographische Darstellung und Hervorheben der künstlerischen und handwerklichen Alltagsleistung dieser Teil der eigenverantwortlichen Gestaltung des Lebens mehr beachtet wird.

Das Wort Volksmusik bedarf einer Entexotisierung. Dabei ist die Liebe zum Alten, das Bekenntnis zur Überlieferung und zur gewohnten Klangwelt zu respektieren. Die Volksmusikpflege soll aber Abstand davon nehmen, zu verklären, die bessere Musik anzubieten, damit den Kreis zu schließen. Sie soll ihre Rolle lieber in einem gesamt-kulturellen Kontext sehen.

Um zum Schluss zu kommen:

Das Gesagte ist zwar eine eindeutige Stellungnahme gegen die Eingliederung der Volksmusik in das Bildungssystem und damit gegen eine kopflastige Hinwendung zur Volksmusik. Zugleich aber auch eine Stellungnahme für die Freigabe der Entwicklung, für mehr zweckgebundene Musik. Dies bedeutet aber auch Risikobereitschaft, das Spielen mit dem Feuer, das Zulassen von Ungewissheit wie sehr sich Volksmusik verändern und entwickeln kann. Hier leisten die Institute für Volksmusikforschung und die Volksliedarchive einen hervorragenden Beitrag. Und nun noch ein Beispiel, das meine grundsätzliche Kritik an der Bildungsschiene Volksmusik untermauern soll:

Auch im Bereich der Mundartdichtung ist es gänzlich ausgeschlossen, dass unsere Dorfdichter künftig von der Germanistik ausgebildet werden. Und wenn wir das Sprechen des Dialekts fördern wollten: Auch hier sind das regionale Umfeld, die elterlichen Sprachgewohnheiten, die vorerst im Hause und im Gegenüber erlebte Poesie, die Neigung zum Spiel mit der Sprache ausschlaggebend, dass wir die mundartliche Färbung eines Menschen als ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal erkennen und als Facette des Lebens schätzen. Und in der Volksmusik?.

Die Vorstellung von einer Generationen überspannenden Musikkultur, die neben der überlieferten auch alle, zeitbedingten und schöpferischen Zutaten kennt, ist mehr mit der Lebensbildung als mit der Schulbildung verknüpft. Die Bildungsschiene (und diese zu ändern möchte ich beantragen) ist vorerst einmal nicht geeignet, diese Wünsche ausreichend zu erfüllen, auch wenn der Volksmusik mit der Einbeziehung der in den Lehrplan ein großer Bahnhof gemacht wird.

Für diesen Beitrag wurden Teile eines Referates verwendet, das ich anlässlich der Tagung „Gelehrte oder geleerte Volksmusik“ des Bayrischen Landesvereins für Heimatpflege im März 1997 im Bayrischen Wald gehalten habe.

Verwendete Literatur:

(1)
Weber, Erich (Hrsg.): Der Erziehungs- und Bildungsbegriff im 20. Jahrhundert. Klinkhardts Pädagogische Quellentexte. Verlag Julius Klinkhardt – Bad Heilbrunn/Obb. 1976. ISBN 3-7815-0303-8

Buckmann, Peter (Hrsg.): Bildung ohne Schulen, Kösel-Verlag München. Copyright 1973 by Peter Buckmann, 1974 by Kösel-Verlag München. Übersetzung aus dem Englischen: Helmut Lindemann ISBN 3-466-42040-7

Illich, Ivan: Entschulung der Gesellschaft. Mit einem Vorwort von Hartmut von Hentig. 2. Auflage 1972. 8.-12. Tausend. Kösel-Verlag München. Übersetzung aus dem Englischen: Helmut Lindemann ISBN 3-466-42030-X

Postmann, Neil: Keine Götter mehr. Das Ende der Erziehung. Aus dem Englischen von Angelika Friedrich. Berlin Verlag. 2. Auflage 1995: 18. Bis 27. Tausend. ISBN 3-8270-0170-6

Killy Walther: Bildungsfragen. Beck’sche Schwarze Reihe, Band 76. Verlag C. H. Beck München 1971. ISBN 3-406-02476-9

Kadelbach Gerd (Hrsg.): Bildungsfragen der Gegenwart. Kritiken, Modelle, Alternativen. Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag GmbH & Co., Frankfurt am Main. 1974. ISBN 3-8072-3001-7

(2)
Hörburger Felix: Musica vulgaris – Lebensgesetze der instrumentalen Volksmusik. Erlanger Forschungen Reihe A: Geisteswissenschaften Band 19, Erlangen 1966

(3)
Für die folgenden zwei Absätze, die für eine Stellungnahme an die Abteilung V, Musikpädagogik der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Graz formuliert wurden, ist Herrn Dr. Rudolf Pietsch (Institut für Volksmusikforschung, Wien) zu danken.


Referat anlässlich Symposion „Vermittlung von Volksmusik in Musikschulen, Konservatorien und Musikhochschulen“; Schloss Mageregg, Kärnten, 11/1997; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten