Vom Abstand zwischen Tonaufnahme und ­originaler Musikübung

Lassen wir vorerst einmal die Musik beiseite und mit ihr auch die Überlegung des Sammelns und Konservierens der Töne. Der Mensch ist ja schlechthin Sammler – und das ist er nicht nur vor Tausenden Jahren gewesen, als er sich mit dem Sammeln und Bevorraten eine Überlebenschance sicherte.

Er ist es bis in die Jetztzeit geblieben. Das Anhäufen von Gütern, Kunstgegenständen und Bankguthaben aber ist nur die eine Seite des Begriffs. Die andere hat noch mehr als die materielle mit unserem Leben und mit dem Überleben zu tun: Das Sammeln von Erfahrungen, Erinnerungen und Eindrücken. Hier nähern wir uns auch unserem musikalischen Thema. Der sinnliche Zugang ermöglicht eine individuelle Handhabung der vorgegebenen Muster und verwebt Klingendes mit Erlebtem. Neugierde, Eifer und Gestaltungswille mögen zusätzlich im Spiel sein. Die beglückende Vernetzung von Fertigkeiten mit den Vorstellungen aus der Sammlung von Eindrücken, das alles macht Musik aus, erhebt scheinbar Unbedeutendes zur Größe und Einmaligkeit.

Gebrauchswert als wichtiges Kapital

Dies ist ein Plädoyer für die Qualität der Überlieferung und Unmittelbarkeit und kommt hier nicht von ungefähr ins Spiel. Die besondere Qualität der musikalischen Volkskunst liegt im Gebrauchswert, in der starken Verbindung zwischen musischem Tun und praktisch-kultischem Handeln. Hier werden gleichsam Bewährungen zur Verbindung zwischen jung und alt. In unserem Falle: Musik wird zum Klebstoff zwischen den Generationen. Konserve bleibt dagegen Konserve.

Sosehr vorerst einmal das Sammeln von Erfahrung, das Ansammeln von Erlebnissen als natürlicher Vorgang und einfach als Lernprozess bezeichnet wird: Letztlich steht dahinter auch das Phänomen „Sammeln“, so dass auch hier ein Exkurs notwendig erscheint:

Das Vergnügliche zum Lebensinhalt machen

Sammeln ist eine Facette des Lebens, hat immer mit dem Aussuchen und Entscheiden zu tun, eben jenen Vorgängen, die uns vorderhand Vergnügen bereiten. Es ist nur allzu menschlich, dass das Vergnügliche gerne zum Lebensinhalt gemacht wird, bis hin zur Sucht, zur Sammelwut, wo es dann nicht mehr um das Versorgen und Absichern geht, sondern alleine um die Befriedigung der Sammler-Leidenschaft.

In seinem Buch „Sammeln – eine unbändige Leidenschaft“ (1) weist der Psychoanalytiker Werner Muensterberger nach, dass das Sammeln mit frühen Kindheitsereignissen zu tun hat. Er schreibt: „Das Sammeln erweist sich als Instrument, das nicht allein dazu bestimmt ist, ein Grundbedürfnis zu stillen, das durch frühe Traumatisierung entstanden war, oder das als Notausgang für Empfindungen der Gefahr und bei erneuten Verlusterlebnissen dient. Da es jedoch eine wirksame Erleichterung von derartigen Bedürfnissen ist, wird es als Quelle von Genuss und Wunscherfüllung empfunden.“

Neigung und Leidenschaft der Sammler

Der Autor berichtet von außergewöhnlichen Sammler-Persönlichkeiten, von den unterschiedlichsten Neigungen und Leidenschaften, die einem Nichtsammler schier unbegreiflich sind. Wenn es ihm auch nicht gelingt, eine Ordnung des Sammelns aufzustellen, weil es eben keinen Durchschnittssammler gibt, so ist es doch lohnend, an seine Analysen anzuknüpfen. Er schreibt von der Bewunderung für das Objekt und von Selbstbestätigung: „Sie erhöht sein (des Sammlers) Selbstbild und verleiht ihm Schutz gegenüber den Unsicherheiten …“ (2)

Das Festhalten von brauchtümlichen Anlässen, von Stimmung und Musik ist zugleich die Flucht vor dem Schreckensbild der Vergänglichkeit. Mit der Videokamera mitten im Getümmel haben wir uns eingeklinkt ins Geschehen – wir sind dabei. Das Sammelstück selbst verkommt zum Gegenstand. Gesammelte Objekte bleiben das, was sie sind: Objekte. „Sie mögen Gefühle wachrufen, aber Leben haben sie keines.“ (3)

Die Charakteristika der Volksmusik

Die Volksmusikforschung bedient sich seit etwa hundert Jahren des Ton-Mitschnitts. Freilich, der Wert dieser klingenden Quellen ist unermesslich, und deshalb soll hier keineswegs diese Forschungsarbeit hinterfragt werden, wenngleich die Bezeichnung „Tonträger“ bereits die Einschränkung andeutet. Felix Hörburger meint dazu treffend:

„Da wir uns längst an den ausgiebigen Gebrauch der Tonaufnahme gewöhnt haben, fangen wir an, den großen Abstand zwischen Tonaufnahme und originaler Musikübung zu vergessen. Gerade in der Volksmusik ist es von besonderer Wichtigkeit, diesen Abstand zu kennen, weil wir sonst wesentliche Charakteristika dieser Musik übersehen.“ (4)

Der Forscher mag nun geschult sein und neben dem Tondokument das Umfeld in seiner Beschreibung festhalten. Er ist der Sammler von Beruf und nicht aus Leidenschaft, wiewohl beide Motive da und dort zusammentreffen. Das Sammeln von Volksmusik als Ausdruck einer besonderen Liebe und Verbundenheit zu heimischen Klängen, als Freizeitbeschäftigung, ist ein Phänomen unserer Tage. Die technischen Voraussetzungen ermöglichen heute eine noch nie dagewesene Qualität. Manche, solche mit Leidenschaft mitgeschnittene Musiksammlung wird der Volksmusikforschung später einmal von Nutzen sein – wer weiß? Jeder Volksmusikforscher aber kennt das Gefühl des Eingebundenseins in ein Ereignis. Die Vielfalt der Volksmusiklandschaft Österreichs bietet, neben der Faszination des immer wieder Neuentdeckens von Menschentypen, ein besonderes Erlebnisfeld. Was wäre leichter und angenehmer, als sich diesem Eingebundensein hinzugeben, Mikrophoneinstellung und Blende zu vergessen und den Augenblick für sich verwenden? Der Vergänglichkeit ein Schnippchen schlagen und dann zufrieden festzustellen: Das vergess’ ich nie …!

Das Festhalten des Augenblicks

Umso unverständlicher ist es aber, dass sich Privatiers geduldig und besessen dem Festhalten des Augenblicks widmen, oftmals die Akteure selbst an das „Festhalten auf ewige Zeit“ denken, anstatt dem Augenblick zu huldigen.

Es muss ein Zeichen der Zeit sein, denn wir leben heute von Aufgewärmtem, von Wiederholungen. Dies gilt für die Küche ebenso wie für die abendliche Fernseh-Unterhaltung. Wir sind es gewohnt geworden, nur Ausschnitte des Lebens aufzuheben. Das Familienfoto zeigt keine Uneinigkeit, und die Aufnahme vom Geburtstagsfest zeigt ausschließlich lustige Gestalten. Die Misere im Badezimmer, die verbalen Auswüchse in den Morgenstunden wurden nicht fotografiert. Zur rauhen Wirklichkeit haben wir ein gestörtes Verhältnis, und deshalb sind wir auch für die um Vieles reduzierte Tonaufnahme empfänglich.

Der Genügsamkeit verfallen

Aufbereitet und verdaulich zurechtgelegt – so haben wir es am liebsten. Und: Wiederholbar müssen die Aufnahmen sein, jederzeit abrufbar. Diese – im Hinblick auf das Ereignis – so zu bezeichnende Genügsamkeit bringt uns um die wesentlichen Dinge, denn Musik ist weit mehr als aneinandergereihte Töne, die bereits einmal erklungen – also verklungen sind. Die Sucht der oftmaligen Verwertung bereits erlebter Dinge verstellt uns den Weg zum Gegenwärtigen und beeinträchtigt die Zuwendung zu künftigen Augenblicken.

Es soll hier nicht der Technik-Verweigerung das Wort geredet werden. Vielmehr ist es meine Absicht, einer Fehlmeinung entgegenzutreten: Meist steht die Produktion eines Tonträgers für das Erreichen der Spitze, als Qualitätsmerkmal. Leider hat sich diese Annahme nicht bewahrheitet, dies liegt nun an der gesunkenen Hemmschwelle, was Tonaufnahmen betrifft überhaupt, aber auch an der oben beschriebenen Tatsache, dass Volksmusik nicht nur aus Tönen besteht. Großmutters Rezepte – im Kochbuch ausführlich beschrieben – sind für mich wertvolle Dokumente, weil ich sie selbst vor mir sehe, ihre Stimme, ihre Bewegungen und ihre Mimik – und, weil ich den Küchenduft noch heute in der Nase habe. Was macht jemand, der meiner Großmutter nicht begegnet ist? Richtig: Er besitzt nur ein Kochbuch. (5)

Anmerkungen:

1 Werner Muensterberger: „Sammeln – eine unbändige Leidenschaft“. Psychologische Perspektiven. Aus dem Amerikanischen von H. Jochen Bußmann, Berlin Verlag 1995, Seite 81.
2 ebenda, Seite 326.
3 ebenda, Seite 240.
4 Felix Hörburger: „Musica vulgaris – Lebensgesetze der instrumentalen Volksmusik“, in: Erlanger Forschungen, Reihe A: Geisteswissenschaften, Band 19, Kapitel: Musikant und Tonaufnahme, Seite 76.
5 siehe auch: Hermann Härtel: „Tonband- oder Volksmusikfreunde?“, in: Der fröhliche Kreis, 29. Jahrgang 1979, Heft 1, Seite 23–24.


Referat anlässlich Symposion beim Festivals „aufhorchen“ in Waidhofen an der Ybbs, 4/ 1995
„Aufhorchen – Grenzgänge mit Volksmusik, 1/ 1996;
Sätze und Gegensätze, Band 10/ 1999
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