Entdeckt werden und das Leben danach

Da ich selbst als Musiker ein „Überlieferer“ bin, müsste dieser Beitrag beginnen mit: „Als ich noch kein Gewährsmann war…“, um selbst in die Rolle zu schlüpfen, die hier beschrieben werden soll.

Ich erachte es als notwendig, darüber nachzudenken, welche Haltung die Forscher und Sammler gegenüber ihren Gewährsleuten ein­nehmen und warum wir die beiden so strikt auseinanderhalten – für zwei Pole hal­ten, die sich irgendwann einmal begegnen. Im Leben nämlich ist jeder von uns zu­erst einmal Forscher, später dann Gewährsfrau oder Gewährsmann. Doch leider denken wir zu wenig an das Leben, wir konstruieren den Abstand und Unterschied zwischen dem Sammler und dem Gewährsmann, so wie wir auch den Kunden und den Kaufmann im Rollenspiel des Handelns sehen: Den einen vor und den anderen hinter der Verkaufsbudel. Das Leben selbst aber zeigt uns eine homogene Verflech­tung dessen, was wir hier auseinanderhalten: Jeder von uns erforscht zuerst einmal – ganz intensiv – seine Umgebung, wird nicht müde, seine unmittelbare kleine Welt zu erobern, um sich dann ein Leben lang auf die Rolle des Gewährsmannes vorzubereiten. Auf diese Rolle jedes Menschen möchte ich zuerst hinweisen, weil die beiden Begriffe „Forscher“ und „Gewährsmann“ so weit entfernt stehen und sich – immer wenn wir davon lesen – im wissenschaftlichen Auftrag und oft auf aben­teuerliche Weise – annähern. „Entdeckt werden“ wird mit einem positiven Akt des „Nun endlich wirklich zu leben“, mit „Es für sich und andere ins Bewusstsein zu rücken“ gleichgesetzt, mit einem längst fälligen Hervorheben des „Sonst dem Untergang Geweihten …“.

Vom kindlichen Lernen zum Großväterlichen Belehren

Um hier später ein klares Bild vom entdeckten Gewährsmann und seinen aus der Begegnung mit dem Forscher resultierenden Gefühlen und Veränderungen zeichnen zu können, möchte ich jenes dem Leben gleichzusetzende Phänomen des Forschens, Sammelns und späteren Belehrens noch näher betrachten: Es ist der Lebenslauf, der uns zuerst in die eine Rolle, später in die andere Rolle drängt. Und: Es gibt genügend Störfaktoren, die dazu beitragen, dass dieses vorerst ungetrübte Bild vom kindlichen Lernen und großväterlichen Belehren eine andere Wendung erfährt. Märchenhafte Bilderbuch-Lebensgeschichten sind eben nur märchenhaft.

Ein Störfaktor während dieses ersten Forschens ist die Ablehnung von Traditio­nen (durch Entwurzelung, Zeitgeistströmungen etc.) ebenso wie die Heraushebung (pathetische Pflege) derselben. Was ist damit gemeint? Das erwachende Bewusst­sein, dass wir Menschen uns in eine Generationenkette eingereiht haben, ist eine späte Erkenntnis am Ende einer langen Entwicklung. In jungen Jahren zeigen wir keine Begeisterung für das Ältere, weil es der Vergänglichkeit nahesteht und wir weder den Beginn noch das Ende des Lebens mit unserem Dasein verknüpfen. Erst dann, wenn wir selbst Verantwortung übernehmen und selbst in die Rolle des Vermittlers einsteigen, blicken wir zurück und zugleich nach vorne. Die zwanghafte Beglückung von Jugendlichen mit Gebräuchen und alten Denk- und Hand­lungsweisen ist daher wenig sinnvoll.

Über Bord werfen um – wieder zu entdecken

Der Blick zurück erfolgt von selbst. Dann nämlich, wenn es uns nicht mehr gleichgültig ist, was wir von uns an die Nächsten weitergeben. Die Überzeichnung von Traditionen, d.h. die unbedingte Aufrechterhaltung des Alten ohne Einbindung desselben in heutige Notwendigkeiten, ist ebenso ein Stör­faktor im Prozess des Annehmens der Abfolge von Kommen und Gehen. Aus all diesen Konflikten zwischen den Generationen und aus diesem Traditions-­Erhaltungskrampf spricht Ungeduld und Respektlosigkeit. Letztere deshalb, weil in diesem kräftemessenden Zustand viel an wertvoller, bewährter Substanz über Bord geworfen wird, um sie bald darauf mühsam wieder zu entdecken. Dieser Zu­stand ist – so meine ich – auf die fehlende Notwendigkeit des Zusammenlebens, auf immer weniger Abhängigkeit zwischen den Menschen, mit denen wir leben, also im konkreten Lebensbezug zurückzuführen. Dies ist aber nicht Gegenstand dieser Abhandlung. Widmen wir uns also dem Feldforscher- und auch dem Volksmusik­-Reporter, dem Ereignis-Sammler, der nicht für sein Leben, sondern beruflich mit Forschung, Sammlung und Wiedergabe zu tun hat.

Die Lieder verschwinden in einer kleinen Spule des Forschers

Es ist ein frommer Wunsch der Feldforscher, möglichst wenig in das Leben ein­zugreifen und die Gewährsleute unbeeinflusst zurückzulassen. Es wird immer ein Wunsch bleiben, weil jede Zuwendung eben Spuren hinterlässt. Dies vor allem, wenn es um solche Fähigkeiten geht, die dem emotionalen Bereich angehören, wie etwa das Singen. Plötzlich wird das bisher Selbstverständliche herausgehoben, nicht mehr als Notwendigkeit empfunden, sondern als Besonderheit, als wertvoll gehandelt. Alles, was die Gewährsleute bisher gemacht haben (das Spiel mit der eigenen Musikalität, die Übernahme und Weitergabe von Melodien, eingebettet in lebendige Zusammenhänge), wird zu Kunst und verschwindet in einer kleinen Spule des Feldforschers. Ist es verwunderlich, wenn die Überlieferungsträger ganz unterschiedlich darauf reagieren? Wenn sie sich selbst, aber auch ihre Musik ver­ändern? Wenn sie es nicht nur tun, sondern auch darüber reden? Wenn zum Selbstbewusstsein auch das Sendungsbewusstsein hinzukommt?

Die magische Wirkung des Mikrophons

Die brauchtümliche Musikanwendung steht zudem den ständig neuen und überzogenen Wertmaßstäben der gesamten Musikbranche gegenüber. Deshalb werden sie, die Gewährsleute, sowie der Wert gesammelter Lieder und Tänze – nach dem „Entdeckt werden“ ­auch gerne überschätzt. Die lebenslange Nichtbeachtung schlägt um. Für die Gewährsleute ist Mikrophon gleich Rundfunk. Daher wird auch vom Feldforscher die Veröffentlichung erwartet. In weiser Voraussicht nehmen sie dann jene Künst­ler-Haltung ein, die täglich via Medien ins Haus geliefert wird. Der Umkehr­schwung einer lebenslangen Nichtbeachtung endet mit dem kommerziellen Denken, mit Urheberrechtsfragen, Neid und Wichtigtuerei. Im Grunde genommen werden hier Wertvorstellungen in die Mangel genommen. Selten sind Gewährs­leute diesem Angriff auf ihre bisherige Lebenseinstellung gewachsen.

Aus der Sicht der Forscher gesehen…

Während es zur Methodik von Feldforschung zahlreiche Literatur gibt, wurde den Auswirkungen von Feldforschung und Sammlung bislang wenig Beachtung geschenkt. Felix Hoerburger (1) schreibt zur Problematik von Feldaufnahmen treffend von „separat verfügbar gemachter Musik“ (also für die Aufnahme gespielt) und von „eingebetteter Musik“ (an den Anlass gebundene Musik). Wolf Dietrich (2) hat die psychologischen Einflussfaktoren bei der Feldaufnahme untersucht und einige Punkte aufgezählt, die, wie er meint, „geeignet sind, den Glauben an die unbeeinflusste Quellendokumentation zu erschüttern“. Ganz speziell auf die Beziehung zwischen dem Forscher und seinem Informanten – wie er den Gewährsmann nennt – geht aber Utz Jeggle (3) ein, der von einem Arbeitsbündnis zwischen den beiden spricht. Seine Ausführungen zeichnen ein klares Bild vom Eingriff in das Leben der Gewährsleute.

Musik ist ein emotional besetztes Feld

Vielleicht ist es einmal notwendig zu bemerken, dass unsere Gewährsleute auch anderen Begegnungen ausgesetzt sind und in einer Welt der Ereignisse leben, die immer wieder mit dem eigenen Leben vereinbar sein müssen. Trotzdem: Musik ist ein sehr emotional besetztes Feld, das die Befindlichkeit des ganzen Menschen trifft. Ein Lied jetzt singen zu müssen kann körperliche Qualen bereiten, andererseits auch den Schritt in die Selbstverwirklichung bedeuten. Dieses „Aus der Anonymität heraustreten“, dem bisherigen Alltag eine künstlerische, Kultur schaffende Seite zu geben, eigene Erfahrungen mit dem „sich Produzieren“ zu machen, ist auch ein Teil von Bildung und kultureller Entwicklung. Das Leben nach dem „Entdeckt werden“ zu untersuchen, wäre also auch Pflichtteil jeder Forschungsaufnahme. Sie dürfte nicht dort enden, wo unsere Gewährsleute ihre Originalität und Exotik ver­lieren und einem anderen Lebenssinn zustreben. Vielfach folgt ja nach unserer For­schungstätigkeit die Beachtung unserer Gewährsleute durch die Medien. Diesem Ansturm muss man aber auch gewachsen sein.

Der Hauch von Unehrlichkeit?

Die plötzliche Wichtigkeit, das Aus­erwähltsein – der Rundfunkwagen steht vor dem Haus – erhöht zum Beispiel auch den Abstand zu den Nachbarn. Dieser Schmerz sitzt tiefer als etwa eine abwertende Kritik am Dargebotenen. Schuld sind die Bilder, die via Medien vermittelt werden: Der Blumengarten, der Herrgottswinkel, die Lieder, die alte Bauernstube. Ein Hauch von Unehrlichkeit liegt in der Luft, denn die Nachbarn wissen es besser: Die Mutter ist krank, der Hof ist verschuldet, der Sohn hat keine Arbeit. Die Bilder sind bunt, die Musik ist schön, die Sendung unterhaltsam. Was fehlt, sind die alltäg­lichen Wirklichkeiten, ohne die eine vorerst im Leben verwendete Musik zum Eti­kett verkommt. Und noch eine weitere Überlegung zum Thema „Volksmusik im Hörfunk und Fernsehen“: In unserer Welt der Mitgestaltung unseres Lebensfeldes durch Hörfunk und Fernsehen entsteht in musikalisch tätigen Menschen der feste Wunsch, auch selbst Gestalter zu sein und sich selbst als Teil des Programms zu sehen. Diese Lust an der Spiegelung macht die Wiederholbarkeit von Ereignissen zur Regel und erschwert den Umgang mit der Vergänglichkeit des Augenblicks.

Das Waidmannsheil des Feldforschers

Und nun zum Entdecker und zum Waidmannsheil des Feldforschers. Ich selbst habe mein Eindringen in die Gefühlswelt meiner Gewährsleute nie als Lust oder gar Last empfunden, wenngleich ich durchaus von einem Abenteuer sprechen möchte. Noch mehr: von einer tiefen Annäherung, persönlicher Zuwendung und schließlich Freundschaft. (4) Viel mehr als die musikalische Ausdrucksweise haben mich immer die Lebensweise und Schicksale fasziniert, und diese haben mich auch befähigt, musikalische Phänomene in ihren Zusammenhängen zu sehen und zu be­schreiben. Die heutige Forschergeneration hat es auch um einiges leichter: Es geht nicht mehr um die Rettung des nach und nach verschwindenden Liedes und um die Jagd nach bislang unerforschtem Liedgut. Dafür aber gibt es andere Aufgaben, nämlich die Suche nach Varianten, die Erforschung verschlungener Lebenswege, der Zufälle, welche die musikalische Grundausstattung zum besonderen, seltenen und eigentümlichen Klangbild machen. Ebenso ist oft der Zusammenschnitt eines lebenslang gespeicherten Liedrepertoires zu klären, der Einfluss der Medien auf Liedbesitz oder gar die Ursache einer Sing-Enthaltsamkeit. „Lieder abholen“ wäre heute zu wenig, und deshalb ist die Frage nach dem soziokulturellen Hintergrund umso wichtiger geworden. Einfühlsamkeit ist hier angesagt, Neugierde und Freude im Umgang mit Menschen. Wer aus dem Stand der Gebildeten nach Eingeborenen sucht, das Original wie eine Trophäe für die eigene Eitelkeit benützt, handelt respektlos.

Berichte über Einflussnahme und Auswirkung von Forschungs- und Rundfunkaufnahmen

Leider bin ich der gestellten Frage nicht früher nachgegangen, habe ihr keine größere Bedeutung beigemessen, sonst könnte ich ein noch viel umfangreicheres Material vorlegen. Sicherlich können Forscherkollegen und Sammler von ähn­lichen Eindrücken berichten. Die wenigen hier genannten Beispiele stehen also für weitere Ereignisse und Wirkungen in unbestimmter Zahl. Beim Zusammentragen und Formulieren wurde mir dann bewusst, wie schwierig es ist, über diesen Teil meiner Erfahrungen zu berichten. Selbst auf der Seite des Forschers und Sammlers, sehe ich mich auch als Eindringling und Auslöser von Veränderungen, weshalb ich die Gewährsleute nicht bloßstellen möchte. Die Verschriftlichung des Erlebten tut keinen Abbruch am Respekt vor meinen Gewährsleuten. Wie sich zeigen wird, ist hier eher die Praxis der Sammler in Frage zu stellen. Die Beispiele dienen dem besseren Verständnis des bisher Gesagten und sollen Anlass sein, auch an die Folgen des Sammelns und Forschens zu denken.

  • Ein bis in die heutigen Tage aktiver Tanzmusikant hat erst durch meine jahrelange Forschungstätigkeit Anerkennung in seinem Ort gefunden. Die Volksmusik war dort von Gebildeten behütet worden. Die Tanzmusikforma­tion wurde abgelehnt, weil sie auch Verstärker verwendete und modische Tänze spielte.
  • Ein Fernsehsender hat über meine Feldforschungsfahrten berichtet. Im Zuge dessen führte ich das Aufnahmeteam zu einem alten Ehepaar, das uns einige Lieder – „ungeschönt“ – vorsang. Nach der Sendung war das Ehepaar tief betroffen, weil sich Nachbarn geäußert haben: „Ihr håbts scho amål besser gsungan.“ Im Nachhinein wäre es ihnen lieber gewesen, wenn sie in der Sendung nicht gesungen hätten.
  • Eine von mir aufgenommene Singgruppe wurde nachher auch vom Rund­funk „entdeckt“. Bei den Aufnahmen im Hause der Sänger musste ein Lied mehrmals wiederholt werden, weil es nicht auf Anhieb gelang. Nach dem dritten Versuch hat ein Sänger glücklich gemeint: „Jetz ist’s guatgångan“, worauf über Lautsprecher aus dem Aufnahmewagen zu hören war: „Das werden schon wir wissen …“. Die Sänger haben mir später ihre tiefe Betrof­fenheit mitgeteilt.
  • Vor Jahren habe ich einen Sänger aufgenommen, der durch ein besonderes Schicksal viele Nachteile im Leben ertragen musste. Als Natursänger hat er sich natürlich auch zum örtlichen Chor gemeldet, bei dem aber sein außer­gewöhnliches Repertoire und sein Können nicht gefragt waren. Erst durch die Beachtung infolge des Forschungsprojektes kam er auch im Ort zu Ehren und erfuhr einen sozialen Aufstieg. Er sagt selber, dass sich sein Leben dadurch zum Positiven gewendet hat.
  • Gewährsleute als Volksmusikpfleger? Da gab es einen alten Klarinettisten, der jahrelang bei Tagungen als Vorzeigemodell diente. Ich beobachtete mit den Jahren eine Veränderung in seinem Verhalten, aber auch in seiner Musik. Manche Stücke wurden nur mehr zelebriert, er zeigte zusehends Empfindlichkeit, wenn es darum ging, mit fremden Leuten zusammenzu­spielen. Er teilte dann auch harte Urteile aus. So haben wir ihm einmal das Lied „Wås steht då drobn am Ålmaspitz“ als Ständchen gesungen. Er hat das Lied nicht gekannt und fragte daraufhin, wo wir den Kitsch herhaben. Fazit: Er hat sich eine Kompetenz in Volksmusik-Fragen angemaßt und galt als Galionsfigur – von Pflegern und Forschern dazu auserkoren.
  • Eine Singgruppe hat nach meinen Forschungsbesuchen an Selbstbewusstsein gewonnen und hat unter der Leitung eines Chorleiters zu proben begonnen. Innerhalb von zwei Jahren hat sich der Singstil wesentlich verändert, die Naturstimmen klangen plötzlich kontrolliert und kraftlos. Viel mehr als diese musikalische Veränderung hat es mich berührt, dass die Leute – wie sie es selbst beklagten – durch das ständige Proben keinen solchen Spaß mehr am Singen hatten.
  • Mehrmals habe ich es erlebt, dass mir Gewährsleute von einem früheren Be­such des Rundfunks berichtet haben. Dabei wurde geklagt, dass sich der Re­porter nie mehr gemeldet hat. „Er håt ålle unsre Liada mitgnommen.“ Damit ist wohl bewiesen, daß Singen eine Offenlegung der Befindlichkeit und auch Intimität bedeutet. Die Lieder wurden dem Familienbesitz ent­nommen – Musikanten sehen ihre Musikstücke übrigens als ihr Kapital.
  • Ein alter Herr, dessen Lieder ich aufgezeichnet und in einem Liederblatt herausgegeben habe, ist heute noch manchmal bei uns im Archiv zu Gast. Er lebt im Altersheim. Bei seinen Besuchen habe ich den Eindruck, dass er sich als Mitarbeiter und Mitdenker in unserer Sache fühlt. Er fragt immer, ob wir dieses oder jenes Lied kennen und bietet seine Hilfe an. Die Lieder­blatt-Ausgabe, auf der er auch abgebildet ist, hat ihm im Altersheim An­sprache und Anerkennung gebracht.
  • Eine Singgruppe wurde durch die Herausgabe eines in unserer Reihe er­schienenen Liederblattes bekannt und in der Folge auch vom Rundfunk auf­genommen. Einer der Sänger arbeitete in einer Fabrik, und es war ihm die plötzliche Popularität seiner Person nicht angenehm. Zustimmung („Sing no oans …“) oder Kritik („Du singst jå so fålsch …“) kannte er bislang nur auf dem direkten Weg und nicht via Rundfunk. Er meinte: „Wånn i in da Fruah za Årbeit komm und da Kolleg sågt: ‘Heut håb i di scho im Radio ghört’, dånn wars ma liaba, er hätts net gsågt.“
  • Immer wieder – und das soll hier auch gesagt werden – begegnen mir Gewährsleute, die unsere Aufgabe des Festhaltens und Dokumentierens verste­hen und mittragen. Sie sind beruhigt, dass wir ihre Lieder „einfangen“, weil sie – und das sprechen sie oftmals aus – vom Untergang des Volksliedes überzeugt sind. Mit sichtlicher Befriedigung helfen sie bei der Aufzeichnung und rufen immer wieder an, wenn sie weitere Lieder gefunden haben.
  • Durch unser Interesse verändern wir auch das Repertoire von Sängern und Musikanten. Bei der Feldaufnahme fällt oftmals die Bemerkung: „Dås brauch ma net singan – dås håbts jå sicher schon im Archiv“. Die Sänger meinen, dass die regional bekannten Lieder nicht wichtig sind und suchen für die Aufnahme nach Besonderheiten, nach Liedern oder Musikstücken, die eben wirkungsvoll sind – entweder vom Text oder von der Melodie her. Bei späteren Aufnahmen oder Treffen konnte ich eine höhere Wertschät­zung den „gewöhnlichen“ Liedern gegenüber feststellen.

Vom Leben mit Musik zu den stilistische Veränderungen

Die im letzten Absatz formulierte Repertoire-Veränderung ist im Zusammenhang mit dem Heraustreten einer Musizier- oder Gesangsgruppe aus dem vorerst häuslichen und nachbarlichen, anlassgebundenen Umfeld in die Öffentlichkeit (Präsentation auf der Bühne, im Rundfunk) noch näher zu beschreiben. Es entsteht nicht nur eine Selektion des Repertoires durch die notwendige Bühnenwirkung (Präsentation von Virtuosität und Auswahl publikumswirksamer Texte), sondern zum einen eine bemerkenswerte Unterordnung an die Publikumserwartung und zum anderen eine Veränderung der Sing- und Spieltechnik, die sich durch die Vortragssituation ganz wesentlich vom herkömmlichen „Leben mit Musik“ unter­scheidet und eine stilistische Veränderung nach sich zieht.

Der musikerzieherische Ansatz hat Auswirkungen

Wenn von Veränderungen und einem Leben nach dem „Entdeckt werden“ die Rede ist, dann muss zum Abschluss auch die Sammlung zum Zwecke der musikpädagogischen Umsetzung und chorischen Verwendbarkeit erwähnt werden. Bemer­kenswert ist vor allem, dass heute vielen Menschen nur dieser eine Eindruck von zurecht regulierter Volksmusik zugänglich ist. Musik mit eigenen Lebensgesetzen, mit einer besonderen Verbindung zu Brauch und Gebrauch wurde pädagogisch gereinigt, zu Konzerngut. Ebenso ist die Entgiftung von Liebesliedern und die Reduzierung von Liedern aus der Ganzheit zu Schulgut zu erwähnen, letztlich die Re­duzierung auf Musik alleine, in die Mangel genommen durch einen musiktheoreti­schen und erzieherischen Ansatz.

Entdecken ist eine hohe Verantwortung

Die Auswirkungen des Entdeckens sind vielschichtig. Auf der Suche nach dem Unberührten trampeln wir oftmals so lange im Wildwuchs, bis ein Pfad entsteht, der andere Neugierige anlockt, der aber auch den Gewährsleuten den Weg bereitet und einen neuen Horizont anbietet. Der Hinnahme der Veränderbarkeit, dem Zu­geständnis, dass das Leben danach eine neue Herausforderung bietet, stehen aber nach wie vor die Faszination und der Wunsch gegenüber, dem Original zu begeg­nen, etwas von jener Kraft zu erheischen, die allem innewohnt, was Generationen übergreifend geformt und mit Bildern von Menschen angereichert ist, die ihre Lieder und Weisen mehr mit dem Lieben und Leben verbunden und sie vor allem gefühlt haben.

Am besten ist es, sich der bewährten Rolle zwischen Gast und Gastgeber zu entsinnen…

Dass wir die kleine Spule, die am Schluss einer Feldforschungs-Begegnung in die Manteltasche verschwindet, „Tonträger“ nennen, verweist treffend auf die Reduziertheit des Inhalts. Wer nicht in der Manteltasche verschwindet, keine Archivnummer erhält, sind die Menschen, in deren Leben wir vor wenigen Stunden getre­ten sind und deren gute Stube wir nun wieder verlassen. Es gibt eigentlich keine bessere Empfehlung als jene, sich der alten und bewährten Verhaltensmuster zwischen Gast und Gastgeber zu entsinnen.

Anmerkungen:

1 Felix Hoerburger, Musica vulgaris, Erlangen 1966, S. 76 f.
2 Wolf Dietrich, Psychologische Einflussfaktoren bei der Feldaufnahme, in: Musikologische Feldfor­schung. Aufgaben, Erfahrungen, Techniken (Beiträge zur Ethnomusikologie 9), hg. v. d. Deutschen Gesell­schaft für Musik des Orients, Hamburg 1981, S. 55–65.
3 Utz Jeggle, Zur Geschichte der Feldforschung in der Volkskunde, in: Feldforschung. Qualitative Metho­den in der Kulturanalyse (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen 62), hg. v. U. Jeggle, Tübingen 1984, S. 11–46, bes. S. 43 ff.
4 Rolf Wilhelm Brednich, Zum Stellenwert erzählter Lebensgeschichten in komplexen volkskundlichen Feldprojekten, in: R. W. Brednich und Hannjost Lixfeld (Hg.), Lebenslauf und Lebenszusammenhang, Frei­burg i. Br. 1982, S. 46–70: 64. – Brednich zitiert darin aus Dietmar Sauermann, Gedanken zur Dialogstruk­tur wissenschaftlicher Befragungen: „Viele Gespräche und Besuche dienten oft nur dazu, die Beziehung zu festigen, oder nahmen den Charakter einer Altenbetreuung an.“

Literatur:

Brednich, Rolf Wilhelm / Lixfeld, Hannjost: Lebenslauf und Lebenszusammenhang, Freiburg i. Br. 1982.
Deutsche Gesellschaft für Musik des Orients (Hg.): Musikologische Feldforschung. Aufgaben, Erfahrungen, Techniken (Bei­träge zur Ethnomusikologie 9), Hamburg 1981.
Hoerburger, Felix: Musica vulgaris, Erlangen 1966.
Jeggle, Utz (Hg.): Feldforschung. Qualitative Methoden in der Kulturanalyse (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-lnstituts der Universität Tübingen 62), Tübingen 1984.
Schmidt, Leopold: Volksgesang in Niederösterreich. Überlegungen an der Schwelle des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts, in: Österreichische Musik-Zeitschrift 27, 1972, S. 459–462.


Musicologica Austriaca, , Identität und Differenz, Band 17 Sonderdruck, Seite 135-142, Salzburg, 6/ 1998; Sätze und Gegensätze, Band 10/ 1999; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.