Wem nützt Feldforschung und Dokumentation?

Musikalische Feldforschung ist nicht nur Sammlung von Musikmaterialien. Es geht uns vielmehr um den Gebrauch und die seltsam verschlungenen Wege der variantenreichen musikalisch-poetischen Tradition – der Volksmusik.Das uns überlieferte Musikmaterial bedarf immer wieder der Ergänzung im Blickwinkel der jeweiligen Zeit und damit im Hinblick auf die jeweilig gültigen Lebensumstände.

Das gilt speziell für die Musikgattung Volksmusik, deren besondere Eigenschaft die Einbindung in brauchtümliche Handlungen ist und die sich Überlieferungsprozessen unterordnet. Die uns aus der Kunstmusik geläufige Werktreue und Interpretationsvielfalt ist kein so komplizierter Vorgang wie der Prozess der Überlieferung von Volksmusik.

Wer forscht Feld?

Im Berufsfeld des Ethnologen bezieht sich Feldforschung (nach Max Peter Baumann) im allgemeinen Sinn auf das Arbeitsfeld des Ethnologen, des Volks- und Völkerkundlers und umschreibt jene wissenschaftliche Tätigkeit, die mit dem Gegenstand ihrer Untersuchung in direktem Kontakt steht und Ereignisse, Prozesse und Handlungen sowohl einzelner Personen als auch ethnischer Gruppen unter dem Aspekt teilnehmender Beobachtung systematisch dokumentiert, befragt und beschreibt.1 Und: Darüber hinaus hat sich der Begriff Feldforschung auch im Volksmusik-Pflegefeld als eine Art des „Nachfragens im eigenen Interesse“ etabliert.

Es geht mir nicht um das Auseinanderhalten von beruflicher, privater, fachlicher oder dilettantischer Feldforschung. Vielmehr um den Hinweis auf eine interessante Entwicklung: Die vor etwa zwei Jahrzehnten ausgesandten Impulse des Österreichischen Volksliedwerkes haben dem Wort Feldforschung, das früher nur als wissenschaftlicher Arbeitsbegriff galt, zumindest im volksmusikalischen Umfeld eine neue, weniger fachspezifische Bedeutung gegeben. Feldforschung wurde zum Erlebnis, zu einem beliebten Begriff für das „sich endlich umschauen“, um unterbrochene Überlieferungsprozesse für sich wiederum zu reparieren und die Ergebnisse dem jeweiligen Volksliedarchiv mitzuteilen. Der Werbefeldzug für die Volksmusik, die zunehmende Verschulung der Volksmusik hat Zufälle und Notwendigkeiten musikalischer Überlieferung weitgehend abgelöst. Wettbewerbe und damit auch die Überzeichnung von Spieltechniken und Effekten haben einen Abstand zum Volksmusik-Lebensmittel entstehen lassen. Mit dem Wort Feldforschung erklang auch der Ruf nach mehr Nähe der Volksmusik zum Leben.

Die Volksliedwerke und das Institut für Volksmusikforschung stellten die letzten 20 Jahre die fachliche Kompetenz, organisierten unzählige Feldforschertagungen und animierten viele junge Mitarbeiter, Musikanten und Studenten, genau diesen Erkenntnisweg zu gehen. Feldforschung für den Normalverbraucher. Einerseits wurde der Begriff entzaubert und gleichzeitig wurden viele engagierte Mitarbeiter gewonnen. Dieser Vorgangsweise liegt zwar kein pädagogisches Konzept zugrunde, obwohl wir ein solches daraus ableiten könnten. Die Tagungen des Österreichischen Volksliedwerkes waren und sind eine Plattform, die ein Miteinander von Musikethnologen und feldforschenden Musikern schon seit jeher ermöglicht haben. 

Ist Forschen eine Affekthandlung aus dem Bewusstsein der Vergänglichkeit?

Immer wenn von Feldforschung oder Dokumenten die Rede ist, erscheint uns das Bild von alten Traditionen, alten Menschen, alten Schriftstücken, alten Gebäuden und alten Geräten. Es entsteht in uns das Gefühl des Zuspätkommens, weil unsere Väter-Generation – wie beneidenswert – noch den Original-Rückblick in längst vergangene Zeit hatte, weil für uns – scheinbar – nichts übrig geblieben ist, als das allen zugängliche und alltäglich scheinbar banale „Jetzt“. Gleich vorweg: Feldforschung und Dokumentation widmen sich auch jüngsten Entwicklungen, nützen aber vor allem der Zusammenschau von einst und jetzt. Und, vorweg eine Antwort auf den Vortragstitel: Freilich kann man jene, die Nutzen aus Feldforschung und Dokumentation ziehen, auch personifizieren. Es sind die, die sich an den Überlieferungen erbauen und auch die, die sich an aufgezeichneten Traditionen orientieren. Auch die, die wir „Gewährsleute“ nennen. Über den Schaden, den wir anrichten können, komme ich später zu sprechen.

Wir sind ja alle die Zielgruppe für die Kenntnis unserer eigenen Geschichte. Forschen und dokumentieren ist ein kulturgeschichtliches Phänomen, das zurückschauend mit dem Beginn der Zeitrechnung, noch weiter zurückschauend mit dem Beginn des Lebens auf diesem Planeten und vorausschauend mit der Unendlichkeit und Unfassbarkeit dieser Unendlichkeit zu tun hat. Gegebenheiten und Erkenntnisse hinterlassen wollen, ist daher im Auftrag dieses Menschseins begründet. Dieser Drang, eine Nachricht zu hinterlassen, dieser Wunsch, in mehreren Generationen denken zu können, sich möglichst alle bisherigen Erkenntnisse anzueignen, all dies steht auch in einem ungleichen Verhältnis zu jenen Dingen, die wir nie erfahren werden, weil sie nach uns geschehen. Feldforschung und Dokumentation haben also zutiefst mit einem Überlebenswunsch zu tun und enden nie mit dem Aneignen, sondern erfahren einen ganz besonderen Höhepunkt durch das Weitergeben.

Verzeihen Sie bitte diesen Überbau über eine vorerst simple Fragestellung und erlauben Sie mir bitte diese Tiefe, denn sie führt uns unmittelbar zu einem besseren Verstehen der Zusammenhänge zwischen Forschung und Pflege.

Bleiben wir also bei Feldforschung als Mittel für Volksmusikpflege.

Als Feldforscher zeichnen wir ein Bild vom Jetzt für alle, die morgen nach dem Gestern fragen. Und nun könnten wir uns über Methoden und Ergebnisse streiten, über die notwendige Lagertemperatur von Tonbändern etc. Damit wäre mein Vortrag hier am Ende, wenn es nicht – und nun speziell in der Volksmusik – auch diesen Gedanken des Wiederbelebens und Pflegens gäbe. Um diesen speziellen Fall des nicht nur Betrachtens und Konservierens des Überlieferten, sondern des Suchens nach Anknüpfungspunkten, des Zusammenfügens unterbrochener Traditionsketten, um die Vernetzung des Bewährten mit unserem Dasein geht es hier.

Feldforschung – also die gewissenhafte Aufnahme und Hinterfragung des Musikalischen, aber auch des Lebensumfeldes von Gewährsleuten – kann so manchen pflegerischen Zielen, so mancher entstandener Ideologie heftig widersprechen. Und zwar nicht in RICHTIG und FALSCH beurteilt, sondern in „FÜR DAS LEBEN WICHTIG“ oder aber der Überlieferung und somit der Qualität des Generationen-überspannenden roten Fadens hinderlich. Es geht um unser „Leben mit Musik“ und nicht um die Musik selbst und um sie alleine. Wir erheben nicht den Liederschatz, sondern wir forschen nach dem Menschen in seiner Zeit, der mit seinem Liederschatz lebt. Wir dokumentieren den Anlass, die Landschaft, die Fertigkeit des Menschen, den Charakter, seinen Umgang mit Musik.

Warum sage ich dies hier so eindringlich? Weil die Ergebnisse einer Feldforschung in schriftlichen, fotografischen, akustischen Belegen vorliegen. Allzugerne konzentrieren wir uns auf das Finden des noch nicht Gefundenen. Ein Vielfaches Mehr als das „In Händen halten“ eines Originalbeleges, das Auffinden des bis dato unbekannten Jodlers, ist aber die Begegnung mit dem Original. Der Feldforscher hat den ungeschminkten Eindruck und erfasst vor Ort auch das emotionale Feld; er hat die einmalige Gelegenheit, Musik eingebettet zu erleben. Es liegt mir viel daran, dass der Feldforscher mit den Belegen sorgsam umgehen kann. Aber auch, dass er zusätzlich die Fähigkeit besitzt, das Erlebte richtig zu deuten, seinen Eindruck auch zu beschreiben.

Feldforschung befriedigt also unsere Neugierde, wir erfahren mehr über Vergangenes und Gegenwärtiges. Wir haben dabei oft und oft das Gefühl des Entdeckens. Niemand sonst ist so nahe dran als wir und hat die letzten Sänger gerade noch rechtzeitig aufgenommen. Das ist das Waidmannsheil des Feldforschers.

Neugierde und Jagdinstinkt erfährt hier eine eigene Dimension, weil im Blickwinkel des Gebrauchens spekuliert wird. Die Befriedigung des Jagdinstinkts und die damit verbundenen Kenntnisse neuer Lieder oder Musikstücke übersteigt dann oftmals die Freude am Dokumentieren und gewissenhaften Weitergeben. Dieser Eifer ist auch vom Besitzergreifen gelenkt und nicht selten hört man mit Stolz: „Was sagst du zu meinen Sängern, die ich entdeckt habe.“ Das geht hin bis zur Einbildung, den letzten alten Harfenspieler, die letzte Almschreierin entdeckt und aufgenommen zu haben. Ich sage dies alles, nicht um die Begeisterung ins Lächerliche zu ziehen, habe aber doch anzumerken, dass eine solche Exotisierung den Blick vernebeln kann. Noch einmal als Gedankenhilfe:

Vielleicht ist der Besuch im lebendigen Museum – also feldforschend – dazu angetan, uns selbst als die letzten Entdecker zu sehen, uns in der Erkenntnis zu suhlen, dass wir die Auserwählten sind? Feldforschung als Instrument für Volksmusikpflege eingesetzt, birgt also alle nur denkbaren Facetten, und während die einen die Belege für bare Münze nehmen und wortgetreu – oder notengetreu übernehmen und andere durch Feldforschung zu einem nur wünschenswerten Normalinteresse an ihren musikalischen Vorbildern wechseln, hat sich die Volkskunde aus der Verantwortung zurückgezogen. Sie will heute keine Anleitung – sprich Vorschrift – mehr erteilen. Sie hat die Aufgabe zu untersuchen, und sei es, um schlussendlich den Tod der Volksmusik festzustellen. Zunehmend sind daher die Volksmusikvereine gefordert – und greifen in die Überlieferung oder unterbrochene Überlieferung ein – eine verantwortungsvolle Aufgabe. Nicht immer zum Besten, doch hie und da mit Erfolg.

Wem nützt also?

Oder sollten wir zuerst die Schadensfrage klären? Mittlerweile gibt es ja niemanden mehr, der behauptet, die Gewährsleute in keiner Weise beeinflusst zu haben. Haben wir aber eine Ahnung davon, was es für manche Leute bedeutet, „heimgesucht“ zu werden? Es geht noch nicht um die Tonaufnahme und den Videomitschnitt. Es geht um das Herausheben von etwas, was für die Leute bisher selbstverständlich war, was bisher zum Leben gehört hat und nun an Bedeutung gewinnt und in einer kleinen Spule abtransportiert wird. Und was dann, wenn wir uns nie mehr blicken lassen? Nicht nur einmal habe ich die Klage gehört: „Der Herr hat alle meine Liada mitgenommen.“ Achtung! Lieder und Musik sind in manchem Falle wichtiges Kapital, im Falle der singenden Gewährsleute ein Teil ihres Gemütslebens, das wir – mitnehmen. Und: Vorsicht! (Das gilt vor allem für Feldforscher, die eine eigene Volksmusikgruppe betreiben) Es ist eine Frage der Sittlichkeit, wenn Sie ihre eigenen Gewährsleute mittels der solchermaßen gelernten Lieder, Jodler und Musikstücke an Popularität überholen, sich vielleicht sogar als Bearbeiter ausgeben – ohne die Gewährsleute zu nennen und ihr Vertrauen damit zu würdigen.

Es ist nicht meine Aufgabe, hier näher darauf einzugehen, und es müsste ja anhand von Beispielen auch gefragt werden, ob unser Besuch musikalisches Volksleben auch so aufwerten kann, dass sich der unterbrochene Überlieferungsprozess wieder einstellt oder ob die damit provozierte Fernsehkarriere des Frauendreigesanges von der einst schönen Welt des Gebrauchens in die hässliche Welt des Verbrauchens verwandelt. Damit möchte ich das Thema Wirkung nur gestreift haben und meinen, dass uns hier eine hohe Verantwortung übertragen wird. Mehr Respekt erbitte ich, mehr Respekt.

Lassen Sie mich am Schluss eine Zusammenfassung probieren

Forschung und Dokumentation sind wir uns schuldig, sind wir uns allen schuldig, uns als kulturell interessierte Menschen, die wir als Gäste eine kurze Zeitspanne lang leben, erleben und weiterreichen möchten. Im Bereich der Förderung von Volksmusik bedarf es – durch die vielfach unterbrochene Überlieferungskette – einer besonderen Bodenhaftung, um dem Gebrauch musikalischer Grundkenntnisse zu dienen. Das Formulieren von Unterrichts-Vorschriften, das Nachbeten von alten Notenvorlagen und die Überbewertung der Volksmusik-Medien-Produktion reduziert Volksmusik auf Musik und entfernt sie vom Leben selbst. Feldforschung aber stellt Musikalisches in einen engen Zusammenhang mit Sozialem, mit Lebensumständen. Ein solcher Einblick vertieft das Verständnis für jede nur denkbare Veränderung, für eine Volksmusik, die das Leben schreibt – ob sie uns nun gefällt oder missfällt.

Hier liegt auch die Chance, die vielgeschmähte Volkstümlichkeit nicht nur abzulehnen, sondern sie verstehen zu lernen. Durch diese Lebensschule empfehle ich jedem zu gehen, damit das Wort „Volksmusikpflege“ eine Runderneuerung erfährt. Und weil ich hier von beruflichen und privaten Feldforschern gesprochen habe, möchte ich besonders die zuletzt genannte Gruppe bedrängen. Wenn Sie unter Anleitung der Volksliedwerke und Institute ihren persönlichen Musizierschatz im Felde erweitern, so bereichern Sie Ihre Sinne, Ihr Verständnis und Ihr Lebensbild. Denken Sie aber auch an Ihr zuständiges Volksliedarchiv. Arbeiten Sie mit den Leuten zusammen, so wie wir es in der Steiermark halten. Eigenbrötelei und Musikantenneid sind Eigenschaften, die nicht zu unseren Arbeitsprinzipien gehören, eher sind sie auch – ein Forschungsgegenstand.

Die gemeinsame Dokumentationsstätte Volksliedarchiv ist aber – so darf man ruhig sagen – ein besonderes Zeichen der Wertschätzung unserer Regierungen und der Menschen, die sich engagiert dafür einsetzen. Es gibt zu Ende dieses Jahrhunderts ein erstaunliches Echo auf unsere Arbeit – Dank unserer Kompetenz, die wir nicht nur durch Zuneigung zur Volksmusik, sondern vor allem durch unsere Forschungstätigkeit erlangt haben. Unsere Volksliedarchive sind lebendige Zeugen dieser Entwicklung.

Interessant ist, dass im militärischen Bereich „Archivieren“ mit „unter Verschluss halten“ bzw. mit „Verheimlichen“ übersetzt wird. Und schön ist, dass für uns „Archiv“ heute mit Veröffentlichen und Öffnen gleichgesetzt wird.

Dieses Plädoyer für die Feldforschung ist nichts anderes als die Bekräftigung der Worte von Prof. Gerlinde Haid, die einmal gemeint hat, dass über Volksmusik nur jene reden sollen, die auch Feldforschung betrieben haben. Sie hat recht.

Wie unwichtig erscheinen uns Ideologien, Einschaltziffern, Wertmaßstäbe oder etwa ein Tonträger – in der ganzen Reduziertheit dieses Wortes. Was sind pädagogische Ansätze, wenn uns gleichzeitig – durch Feldforschung – mitgeteilt wird:

…dass das Schicksal dreier ganz unterschiedlich im Leben stehender Menschen ausgerechnet das Musikalische verbunden hat.

…dass sich die Zitherspielerin durch frühe Witwenschaft sosehr der Musik gewidmet hat und deshalb eine besondere Rolle in ihrer kleinen Welt des nachbarlichen Umfeldes spielt.

…dass der Werksarbeiter, der uns Hunderte Lieder vorgesungen hat, sich nicht Volksliedsänger nennt und sich seine Kenntnisse ausschließlich in Geselligkeit angeeignet hat.

…dass der heute über 80-jährige ehemalige Knecht in seiner Jugendzeit nur zwei Dinge in seinem Besitz hatte: Seine Mundharmonika und seine Lieder.

Es ist schön…

…wenn wir erfahren, dass oftmals nicht Musikausbildung und Probe gegriffen haben, sondern Zufälle und Notwendigkeit am Werk waren.

…wenn wir mitbekommen, wie viele Menschen ihre einzige Bestätigung in der Musik erfahren und damit auch ärgste Notzeiten überstanden haben.

Ja, die Musikwelt neigt heute zu abstrakten, hochgezüchteten Leistungen, zum idealen Zusammenspiel zwischen Werk, Spieltechnik und Ästhetik. Es tut einfach gut, Musik als den nützlichen Teil des Lebens kennenzulernen.

(1) Max Peter Baumann: Musikologische Feldforschung – Aufgaben, Erfahrungen, Techniken, Band 9 der Reihe „Beiträge zur Ethnomusikologie, Verlag der Musikalienhandlung Karl Dieter Wagner, Hamburg, 1981


Referat anlässlich der Tagung „Wege zur Volksmusik“ zur 20 Jahr-Feier des Instituts für Musikerziehung in Bozen/Südtirol, 11/ 1997; Sätze und Gegensätze, Band 10, Graz, 1999; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.