Volksmusikpflege ist out – was ist dann in?

Meine Ausführungen stehen in Zusammenhang mit den bisher gewonnenen Erkenntnissen auf dieser Sommerakademie. Wir haben uns zuerst mit der Begriffsbestimmung des Wortes Volkskultur beschäftigt, dann die Identitätsfrage ins Spiel gebracht, und die Wissenschaftler haben ziemlich einhellig mit den Politikern die Volkskultur als politische Dimension für ganz Europa erklärt.

Beim Thema „Volksmusikpflege“ angelangt, sehe ich deren Rolle zwischen einer neuen oder beständigen Hinwendung der Menschen zu den Wurzeln von Land und Leuten (als Folge einer Sehnsucht nach Bewährung und Beständigkeit) und dem teilweise neuen, teilweise fehlenden Engagement in Sachen Volkskultur der zuständigen Verwaltungen und der Politiker angesiedelt.

Volkskultur als politische Dimension im neuen Europa

Die Beauftragten für die Volksmusikpflege sind nicht nur die Kulturabteilungen der Länder und von den Ministerien gestützte Institutionen wie die Volksliedwerke, sondern auch jene große Gruppe von Pflegern, die einen inneren Auftrag verspüren und danach handeln. In dieser Vielfalt an Zuwendung zum Thema erhält nun die amtliche Volksmusikpflege den eindeutigen Auftrag, nicht nur Altes zu pflegen, sondern Modelle zu entwickeln, um die Lebensgesetze musikalischer Volkskultur zu sichern, sie als Lebensmittel erkennbar zu machen (zum Unterschied vom Accessoire) und sie vor musealer Erstarrung zu schützen. In Anbetracht der politischen Nutzbarmachung durch das gegenwärtige Förderungssystem ist dies keine leichte Aufgabe. Volksmusikpflege ist also keineswegs eine Tätigkeit von Liebhabern und Fachleuten, sondern dient auch als Mittel, um den Politikern ein Image der „Volksnähe“ einzubringen.

Zum veralteten Begriff „Volksmusikpflege“

Mit dem ungeliebten Wort „Pflege“ sollten wir eigentlich keine Probleme mehr haben – vor allem wenn wir diesen Begriff mit neuen Inhalten beseelen und auch daran denken, dass es ein Fachausdruck für Fachleute ist. Die Bevöl­kerung gebraucht es nicht – und um gleich ein Beispiel für die viel schönere Verwendung des Wortes zu nennen – man pflegt am Heiligen Abend „Stille Nacht“ zu singen und bei anderer Gelegenheit „Ein Prosit der Gemütlichkeit“. Wer neue Modelle sucht, über neue Modelle spricht oder diese auch anwendet, für den wird die „Geschichte der Volksmusikpflege“ vorerst einmal Pflichtlektüre sein müssen. Motivation, Methoden, Erfolge und Misserfolge früherer Pfleger sind ja auch mitverantwortlich für die Beschaffenheit unseres derzeitigen Arbeitsfeldes, und dieses präsentiert sich uns eben nicht als musikalische Naturlandschaft, sondern als Klangbild einer kulturellen Baustelle. Die erste Voraussetzung also für eine verantwortungsbewusste Volksmusikpflege ist die Kenntnis von deren Geschichte. Die zweite Voraussetzung wäre die Kenntnis gegenwärtiger, musikalischer Phänomene, erlern- und erlebbar durch Feldforschung.

Die Anerkennung der emotionalen Hinwendung

Zur Volksmusikpflege zählt nicht nur der statutenmäßige Auftrag der Volksliedwerke oder einer Landesstelle für Volksmusik. Im weiten Sinne müssen wir auch Initiativen einzelner Personen oder Vereine zu den Volksmusikpfle­gern zählen, die innerhalb ihrer Gemeinden oder in begrenzten Personenkreisen wirksam werden. Dass die liebevolle Hinwendung zu volkskulturellen Anliegen eher emotional geschieht und nicht immer fachkundig untermauert ist, tut keinen Abbruch. Selbst der dilettantische Umgang mit dem Überlieferten, die Überbetonung des Volkstümlichen, das gewollte Heraustreten aus Anonymität und das Einheimsen von Anerkennung ist durchaus legitim und auch Teil unseres Arbeitsfeldes.

Der eigene Verantwortung wahrnehmen ist doch positiv!

Die amtliche Volksmusikpflege muss also wissen, dass nicht sie alleine ihr Anliegen verfolgt, dass vielmehr deren statutenmäßiger Auftrag die verfeinerte und intellektuell begründete Form einer verbreiteten und instinktmäßigen Hinwendung – einer Liebhaberei – ist. Diese oftmals private Vereinnahmung musikalischer, poetischer und tänzerischer Überlieferung stößt in der Bevölkerung auf Gegenliebe. Es hat den Anschein, als ob sie dankbar wäre, dass sich jemand einer Sache annimmt, für die jeder einzelne selbst Verantwortung tra­gen müsste. Es kommt somit zu einer Verantwortungszuordnung (Singen ist gleich Gesangsverein, Musizieren ist gleich Musikverein) und zur Verkümmerung eigener musikalischer Tätigkeit.

Immer wird gleich nach Innovation gerufen

Die Intentionen einer solchen Volksmu­sikpflege sind nicht zu verurteilen. Nach außen hin hat ein solches Tun aber doch ein konservativ-rückbezogenes Image. Das Festhalten an überlieferten Traditionen wird meist von jenen kritisiert, denen es versagt geblieben ist, in eine intakte Überlieferungskette eingebunden zu sein. Innovation wird einge­fordert! Warum eigentlich? Wenn eine Hausfrau in vierter Generation das Re­zept ihrer Ahnen nach wie vor verwirklicht, schreit auch niemand nach Inno­vation.

Das Anliegen eine breiten Gesellschaftsschichte: Das ist Stärke

Die Volksmusikpflege unserer Tage hat wesentlich mehr Mitdenker und Mitstreiter, als wir glauben. Alle meinen es ehrlich, jeder fühlt sich als Retter der aller letzten Lieder oder Tänze. An eine öffentliche Institution der Volks­musikpflege werden aber höhere Ansprüche gestellt. Sie muss ihre Intentionen formulieren. Für das „Alte“ zu sein oder Angst vor Verlusten zu haben, ist zu wenig. Die Maßnahmen sollen keineswegs die freie Entfaltungsmöglichkeit einengen, sollen regionale Eigenarten und Besonderheiten in ihrer Überliefe­rung sichern und Breitenwirkung statt Spitzenwirkung erzielen. Vor allem aber sollen sie die Lebensgesetze der Volksmusik beachten.

Das gleiche Anliegen und die Kluft dazwischen

Hier teilt sich nun auch das Aufgabengebiet zwischen der Liebhaberei und der amtlichen Volksmusikpflege. Während in den Büros der Volksliedwerke auf Grund der Erfahrungen gegenwärtiger Feldforschungserhebungen, des Studiums der landesweiten Entwicklung und der Liederwünsche der Bevölke­rung nach Modellen der Volksmusikpflege gerungen wird, feiern die Heimat­abende der sechziger Jahre fröhliche Urständ. Die von jeder Problematik verschont gebliebenen, oftmals selbsternannten Volksmusikpfleger sind damit nicht zufrieden, wenn die beiden Bergbauern bei ihrem Almfest so schön jodeln oder der Zitherspieler bei der Sparvereinsauszahlung seine Nachbarn unterhält. Ihre Entdeckungen, so meinen sie, sind dem Untergang geweiht, wenn sie nicht hervorgehoben und mit den Mitteln unserer Zeit vermarktet werden. Sie sind im Irrtum. Das wäre nämlich die einfachste Form der Volksmusikpflege, wenn mit der Emporhebung auf die Bühne und mit dem Rezept ,,Jede Musikgruppe hat ihren Tonträger“ dieser Volksmusik gedient wäre. Die Effizienz einer solchen „Pflege“ ist freilich nicht messbar, aber durchaus erlebbar.

Die Reduzierung auf musikalische Qualität

Die negativen Auswirkungen sollten längst Gegenstand unserer Forschungen sein, denn musika­lische Volkskultur wird nun nicht mehr nach ihrem Umfeld beurteilt und nach ihrer Funktionalität gewertet. Es wird eine Reduzierung auf rein musikalische, pädagogische Qualitätsmerkmale eingeleitet. Damit ist die Volksmusik-Pfle­ge-Szene geboren. Mit der Schaffung einer eigenen „Volksmusikpflegeszene“ gehen mehrere Veränderungen der Volksmusik einher. Sie sind vorerst einmal schwer erkennbar, weil sie mit Verpackung und Etikett vereinheitlicht werden, mit allem, was im Regal steht. Es wäre nicht richtig, ausschließlich den freien Markt anzuprangern, also die Veranstalter, die Medien, die Tonträgerproduzenten. Die Aufnahme ins Konzertprogramm und ins Verkaufsregal ist für die Pflegeszene selbst eines der höchsten Ziele. Nicht aus kommerziellen Überlegungen, sondern unter dem Deckmantel des Handelns für eine gute Sache. Dies ist aber nicht ungefährlich.

Welche Veränderungen spielen sich ab?

  1. a) Das Repertoire: Die Auswahl wird auf Bühnenwirksamkeit abgestimmt. Es gibt genügend Ge­sangsgruppen, die sich in keiner Weise im geselligen Leben behaupten können und allein wegen ihrer perfekten Vortragsweise von einer Bühne zur anderen gereicht werden.
  2. b) Die musikalische Ausführung: Diese wird auf reine Vorführung hin geprobt. Es gibt genügend Instrumental­-Musikgruppen, die auf keinem Tanzboden bestehen können, weil sie ihre Mu­sikstücke so vergestaltet haben, dass sie ausschließlich auf der Bühne ihre Wir­kung erfahren.
  3. c) Durch die Beachtung des rein musikalischen Niveaus wird der emotiona­le Wert einer gelebten Gebrauchsmusik nicht erkennbar und weder von den Darbietenden noch vom Publikum erkannt.
  4. d) Durch die erreichte Popularität (Veranstaltung, Rundfunk, Fernsehen, Tonproduktion) entsteht bei jungen Musik- und Gesangsgruppen Selbstzufrie­denheit. Musikschulreife wird nicht als erste Stufe hin zur musikalischen Reife gesehen, sondern mit dem Etikett „echte Volksmusik“ ausgezeichnet. Unter dem Titel „inser Volksmusi“ wird Stümperhaftes übertüncht vom Glanz eines höheren Auftrages.

Kennzeichen der solchermaßen leidenschaftlichen Hinwendung zur Volksmu­sik ist also die geringe Bedeutung des Gebrauchs und des Besitzens von Re­pertoire und die zunehmende Bedeutung der Veröffentlichung. Volksmusikvereine und -pfleger sind die Initiatoren von Konzerten und sind Herausgeber von Tonproduktionen, mit der Absicht der Breitenwirkung. Zu beobachten ist auch ein starkes Bemühen um Reflexion in den Massenmedien, verbunden mit einer Überbewertung von deren Wirksamkeit für die Volksmusikpflege.

Der Abstand ist groß und wird größer

Der Abstand zwischen den Überlieferungsträgern und der Volksmusikpfle­geszene ist groß. Da nützt es auch nicht, wenn da und dort tatsächlich Überlie­ferungsträger auf die Bühne gebeten werden. Volksmusik unterliegt in diesem Moment den Gesetzen der Bühne. Dazu gehört ein zügiger Ablauf, unverbind­licher Kommentar ohne tiefere Information und vor allem Abstand zwischen den Künstlern und den Klatschern. In dieser Hinsicht ist zwischen der soge­nannten „echten“ und der sogenannten „volkstümlichen“ Szene kaum ein Un­terschied festzustellen. Kann und soll man diesem Trend zur Bühnen-Volks­musik entgegensteuern oder soll man ihn einfach mit vollziehen?

Können wir den Nährboden für musikalische Kommunikation schaffen?

Institutionen, die – aus welchen Gründen auch immer – Volksmusik als ihre Aufgabe sehen, sollten nun einmal vorhandene Szenen ihrer eigenen Entwicklung überlassen und sich vermehrt den Voraussetzungen der Volksmusik wid­men: Nämlich den Nährboden für musikalische Kommunikation zu schaffen, den Überlieferungsprozess erlebbar machen und die musikalische Grundaus­stattung jedes einzelnen Menschen aus der Reserve locken.

Spätestens nach dieser Formulierung muss uns klar sein, dass wir damit über die Gattung Volksmusik hinausgehen, und das ist gut so. Die von uns praktizierten Veranstaltun­gen schließen eine solche Begegnung mit anderen Musikgattungen keinesfalls aus. Und nun möchte ich einige Modelle vorstellen. Es sind Versuche, das Beste aus dem uns übertragenen Auftrag zu machen.

  1. Feldforschung

Es ist eine alte Erfahrung, dass Feldforschung einen besonderen Zugang zum Liedrepertoire der Bevölkerung ermöglicht und damit ein besseres Verständ­nis der Zusammenhänge entsteht. Wenn ich nun Feldforschung als erste Pfle­ge-Maßnahme anführe, dann liegt dies nicht in der Suche nach noch unbe­kannten Liedern begründet. Absicht ist es, die vielerorts noch intakte Musik­tradition erlebbar zu machen. Viele Fragen werden damit beantwortet und die Volksmusikpflege erscheint in einem neuen Licht.

Was wir als Institution unter dem Titel Feldforschung tun, kann im kleinen Format jeder für sich versuchen. Dazu regen wir in vielen einzelnen Gesprä­chen an und wecken damit das Interesse an der eigenen Familien- oder Ortstra­dition. Es ist kein neues Konzept. Der Blick zurück ist allerdings unmodern geworden. Es sind uns fertige Programme viel lieber als die mühevolle Suche nach den verdeckten Spuren. Also: Nicht wir wählen aus, nicht wir machen Liedvorschläge, nicht wir belehren die Bevölkerung, was sie zu singen hat. Wir stellen statt dessen die Verbindung zu einem noch funktionierenden Liederfluss her.

  1. Publikationen

Abgesehen davon, dass wir in der Gestaltung unserer Zeitschrift „Der Vier­zeiler“ und in anderen Publikationen neue Wege gehen und wir grundsätzlich keinen verbindlichen Zusammenhang zwischen Kreuzstichmuster, Trachten­stoff und Volksmusik herstellen wollen, stellt vor allem die Herausgabe des Steirischen Liederblattes ein Modell der Pflege dar. Wir kennen alle die Ge­schichte der Liedflugblätter und Liederblätter. Also nichts Neues. Neu ist, dass wir in den meisten Ausgaben die Überlieferungsträger bildlich und im Text vorstellen, also einen Schritt vom bloßen Notenbild hin zur persönlichen Be­gegnung tun. Es werden Lieder in kleinen Portionen ausgeteilt.

Bei den Instru­mentalmusik-Ausgaben richten wir uns nach den Bedürfnissen. So gibt es Mu­sikantenstückln im Format der früheren Musikantenbücher und Instrumental­musik für Bläser im Marschbuchformat. Durch unser umfangreiches Angebot an Instrumental- und Vokalmusikausgaben sind wir mit der Bevölkerung di­rekt in Verbindung. Wir gestalten unsere Publikationen nicht für den Multipli­kator, sondern für den Endverbraucher.

Die schon erwähnte Zeitschrift „Der Vierzeiler“ signalisiert mit ihrer Auf­machung keinesfalls die heile Welt und Lieblichkeit, auch kein romantisches Weltbild, sondern macht neugierig, regt zur Diskussion an. Unsere Zielgruppe ist die musizierende Familie, Chorleiter, Musikanten, Pfleger und unsere Mit­glieder. Wir leisten mit einem breiten Spektrum an Meinungen, mit einer bildlichen ­und textlichen Auseinandersetzung zu den Themen der musikalischen Volks­kultur einen Beitrag zur besseren Kenntnis von Volksmusik.

  1. Liedanfragen

Wir präsentieren uns ganz bewusst als Servicestelle und bieten in den Zeit­schriften und Zeitungen unsere Dienste an. Die Lied- und Textanfragen sind in den letzten Jahren von 60 auf 1500 jährlich angestiegen. Dieser Dienst am Kunden hat nicht nur unser Volksliedarchiv bekannt gemacht, sondern bewirkt nebenbei, dass wir inzwischen einen sehr guten Überblick über die Singbedürf­nisse der Bevölkerung haben. Freilich betreffen die Anfragen nicht nur das überlieferte Volkslied, sondern auch die Schlager der letzten Jahrzehnte, Wie­nerlieder u.a.

Familien, Jugendgruppen, Seniorengruppen, Firmen etc. haben bei uns die Möglichkeit, im Rahmen der Aktion ,,Unsere Lieder“ eine den jeweiligen Be­dürfnissen der Gruppe angepasste Liedersammlung in beliebiger Auflage an­fertigen zu lassen. Meist sind Familien- oder Firmenfeiern, Autobusausflüge etc. der Anlass dazu. Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass man dem Steirischen Volksliedarchiv eine Liste der jeweiligen Lieblingslieder übersenden kann. Es entsteht dann eine Liedermappe, die – so lauten die Rückmeldungen – schon längst verstummte Gesellschaften zum Singen brachte.

  1. Weihnachtsliederbüro

Die grundlegende Angst, dass eine Institution wie unsere sich von der Basis entfernt und ausschließlich einem Insiderkreis dient, ist durchaus berechtigt. Wir haben uns daher immer schon Gedanken gemacht, wie wir jenen Teil der Bevölkerung erreichen können, der Berührungsängste mit einer Musikinstitution hat. Wir eröffneten im Dezember 1991 ein Büro für Weihnachtslieder in der Grazer Innenstadt. Vorerst waren wir selbst skeptisch, weil doch anzunehmen ist, dass sich in jedem Haushalt ein Liederbuch befindet und Sammlungen, auch verschiedene Weihnachtsliederbücher im Handel er­hältlich sind. Es stellte sich aber heraus, dass viele Menschen diese „Hilfe zur Selbsthilfe“ benötigen.

Für telefonische Anfragen haben wir für die einmonatige Laufzeit des Weih­nachts­liederbüros eine „Weihnachtslieder-Kummernummer“ eingerichtet. Die Mitarbeiter bestanden aus einem organisatorischen Leiter und mehreren Singleitern bzw. Liedbesitzern, die sich abwechselten. Es wurde absichtlich kein „Offenes Singen“ angeboten, weil wir annehmen mussten, dass viele Menschen zwar Liedertexte und Noten abholen werden, aber sich keinesfalls – in einem größeren Kreis – eine Blöße geben wollen. Das Büro für Weihnachtslieder in Graz betreut übrigens auch Interessenten im gesamten deutschen Sprachraum und Auslandsösterrei­cher in aller Welt.

  1. „Lieder haben lernen“

Die Betreuung der Bevölkerung gelingt also mittels eines Liederdienstes. Für die musikalische Bildungsschichte gibt es das Chorwesen und dazwischen lei­der wenig Be­rüh­rungspunkte. „Lieder haben lernen“ ist ein Seminar, das be­absichtigt, diese Kluft zwischen den Liedbesitzern und den Liedbenutzern zu schließen, zumindest eine Annäherung herbeizuführen. Die vielfach angebote­nen und auch meist von Insidern gut besuchten Chorleiterseminare und Chor­wochen vermitteln den Umgang mit Lied-Literatur bis zum Umsetzen in Klang samt Dirigieren, Stimmbildung etc.

„Lieder haben lernen“ vermittelt Methoden der schriftlosen Liedübermittlung, deren es viele gibt, die aber viel zu wenig beachtet werden. Referenten sind Liedbesitzer, die auf Grund ihrer ganz persönlichen Qualitäten mit Liedern beeindrucken, so dass sie in das eige­ne Repertoire übergehen. Der gewünschte Teilnehmerkreis sind nicht die Könner, sondern die Ungeübten, die Laien, die gerne singen, am liebsten mit ande­ren gemeinsam. Hier eröffnet sich eine Chance, Musik ins gesellige Leben ein­zubinden und zum geistigen Besitz zu machen, aber in der Praxis und – hoffentlich – unverlierbar.

  1. Musikantenwoche

Sing- und Musizierwochen finden in ganz Österreich statt. Mit unserer steiri­schen Musikantenwoche vermitteln wir Inhalte, die ich aus der Ausschreibung zitieren möchte: „Wir Referenten haben Volksmusik durch das Erleben und das Beisammensein mit älteren Vorbildern erlernt. Wir haben viele Lieder und Tanzmelodien im Kopf und wollen diese gerne weitergeben. Alljährlich gibt es dazu Gelegenheit, mit uns eine Woche lang zu singen und zu musizieren. Einige wichtige Punkte: Unsere Lieder und Melodien entstammen dem geselligen Leben auf der Alm, in der Wirtsstube und dem gastlich-nachbarlichen Umfeld in Stadt und Land. Auch heute gibt es einen festen Gebrauch des allgemein gültigen Liedgutes, das sich von der Vorführ-Musik der Medien und der Bühnenveranstaltungen unterscheidet. Mit unserem Kurs wollen wir auf diese Tatsache hinweisen und eine musikalische Verbindung zwischen den Generationen herstellen.

Wir vermitteln die bis heute lebendig gebliebenen Lieder und Jodler einer Landschaft in der ursprünglichen Form der Kleinstbesetzung durch Vorsingen und Nachsingen und erweitern damit den Liedbesitz jedes einzelnen. Wir vermitteln Tanzstücke aus dem Repertoire bewährter Musikanten und deren Anwendung auf dem Tanzboden. Es ist jeder herzlich willkommen, der mit uns singen und musizieren möchte, gleichgültig, welche musikalischen Fähigkeiten er hat. Jede Stimme und jedes Instrument ist uns recht. Die Anwendung persönlicher Fähigkeiten im täglichen Bedarf an Geselligkeit ist unser Anliegen, nicht sosehr das Einstudieren bis zur Perfektion. Im Vordergrund steht das Erlebnis, das aus dem musikalischen Tun entsteht.“

  1. Steirischer Geigentag

Der Geigentag ist dem Pfeifertag des Salzkammergutes nachempfunden. Mich hat seinerzeit – als jungen Musiker, der schon in den sechziger Jahren „aufgetre­ten“ ist, – dieses Freigehege fasziniert. Der Geigentag beginnt mit einem Lern­teil, bei dem ca. zehn Vorbilder als Geigen-Lehrer zur Verfügung stehen. Er entstand eigentlich aus dem Bedürfnis, andere Geiger kennenzulernen, und hat sich im Laufe der Zeit zu einer Börse der Tanzgeiger und Streich-Tanzmusik entwickelt (Erster Geigentag 1976).

Es stehen ein Gasthaus, Gastgarten, Tanzböden, Spielplatz, Würstelstand, Schießstand und ein Noten-Flohmarkt zur Verfügung. Als Belustigung wird eine Geige versteigert und auf eine Ehrenscheibe geschossen. Nach dem Lern­teil, bei dem Geigerinnen und Geiger jeden Alters und Spielkönnens ermutigt werden, folgt in fließendem Übergang das freie Spiel der Kräfte, wobei Musi­kanten und Zuhörer sowie Tanzlustige (immerhin 1500 Besucher) sich selbst überlassen werden. Ohne Programmablauf und (nach mehreren solchen Gei­gentagen) auch ohne organisatorischen Eingriff machen sich die Anwesenden ihr Fest.

Die Veranstaltung dient mehreren Zielen:

  • der Begegnung zwischen Könnern und Lernenden,
  • der Bewährung der Musiker am Tanzboden,
  • der Repertoire-Erweiterung mit und ohne Noten,
  • der Einbindung von Musik in das gesellige Leben,
  • der Förderung des volkstümlichen Geigenspiels,
  • dem Abbau des übertriebenen Respekts vor der Geige,
  • der Begegnung mit anderen Musikstilen und -Gattungen.

Schließlich bietet sich die Veranstaltungsform als Alternative zur Volksmu­sik-Vorführung an. Musikanten lernen „sich in Szene zu setzen“, und Zu­schauer wissen es zu schätzen, dass sie den Musikern „über die Schulter schau­en“ können.

„Ich habe nie gedacht“, sagte mir im Vorjahr ein Geigentagbesucher, „dass ich noch einmal in meinem Leben die Geige auspacke. Meine Enkelkinder sind auch da – sie können schon den ‘Stubalmwalzer’ mit Harmonika und Flöte. Ich bin auch sehr für das Alte“, sagte er, legte den Bogen auf die Saite und spielte „La paloma“!

  1. Musikantenfreundliche Gaststätten

Seit 1980 gibt es bei uns das Projekt ,,Wieder aufspielen beim Wirt …“ und damit verbunden die Aktion „Musikantenfreundliche Gaststätten“. Ziel war es, in möglichst vielen Gemeinden musikalische Kommunikation einzubürgern. Schon bald sind wir darauf gekommen, dass unorganisiertes Singen und Musizieren eigentlich noch stark verbreitet ist und dass es bei vielen Gaststät­ten nur eines Anstoßes bedurfte. Rund 80 Betriebe haben im Laufe der Zeit die Ernennung zur „Musikantenfreundlichen Gaststätte“ erlebt.

Viele Wirte hal­ten diese Urkunde in Ehren, haben durch den Kontakt mit uns mehr Verständ­nis für Musik im ­Gastraum, übermitteln uns Liederwünsche und weisen uns auf Gewährsleute hin. Einem Teil der Wirte sind wir behilflich, zu sogenann­ten Musikantenstammtischen einzuladen. Das sind Musikabende, vorwiegend mit dem musikalischen Potential der Umgebung. Die Wirte gestalten sich den Abend selbst. Jeder dieser Stammtische hat seine eigene Note und Funktion. Mancherorts wird nur gesungen, manchmal treffen Volksmusik, Folkmusik, Jazz und volkstümliche Musik zusammen. Die Aktion wurde sechs Jahre lang von hauptamtlichen Mitarbeitern betreut und so konzipiert, dass inzwischen ein Großteil der Aktivitäten in die Eigen­in­itiative der Wirte übergegangen ist. Ziel dieser Aktion ist es, eine fruchtbare Begegnung zwischen den örtlichen musikalischen Kräften zu erwirken und Singen und Musizieren in ein geselliges Ereignis einzubetten. Die genannten Modelle sind sicher keine vollständige Rezeptsammlung, nicht einmal für uns selbst etwas Feststehendes. Wir wissen nicht, was morgen oder übermorgen notwendig sein wird, wo und wie neue Initiativen zu setzen sind.

Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass unser Pflegekind „Volksmusik“ sich durchaus verselbständigt, in die Umlaufbahn des Musikkonsums tritt, Sende­leisten ausfüllt und Marktnischen füllen kann. Die Lebensgesetze von Volksmusik sind aber andere. Es ist die Welt der Ge­fühle, des Zufalls, der Notwendigkeit und des Instinkts, in der musikalisches Leben eine eigene und immer wieder neue Sprache spricht. Sie, die Volksmu­sik, lebt von notwendiger Gesetzmäßigkeit und nicht mittels festgehaltener Formeln. Schon gar nicht ist „Salonfähigkeit“ ein erstrebenswertes Ziel. Die genannten Modelle bieten ein vielfältiges und wirkungsvolles Betäti­gungsfeld. Es geht um die Anwendung der musikalischen Grundausstattung im Leben, um die Gestaltungskraft der Menschen, die respektvolle Begegnung mit Überlieferungsträgern und den Interpreten anderer Musikgattungen und auch um das Erlebnis des musikalischen Versuches. Volksmusik soll dem Le­ben dienen.


Referat anlässlich Sommerakademie Volkskultur, Altmünster, 8/ 1993; Walter Deutsch und Maria Walcher: Sommerakademie Volkskultur, Wien, 1994; Sätze und Gegensätze, Band 10/ 1999; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.