Entdeckungsreise ins Volksliedarchiv

Ein Schulterschluss der toten Materie mit den lebendigen Beispielen

Es erscheint mir nicht sehr sinnvoll, die ebenso nachlesbare über hundertjährige Geschichte des Volksliedarchivs[1] in Eckdaten wiederzugeben. Viel lieber ist es mir, Sie, liebe Leserinnen und Leser, auf Spurensuche in die Vergangenheit mitzunehmen: In einem Dachbodenraum lagen die stummen Zeugen einer bis in die heutigen Tage klingenden Musikkultur. Ich griff zum Fenster und ließ eine dicke Fliege ins Freie, deren schnarrendes Glissando mir wie ein erstes Begrüßungsständchen vorkam.

Es gibt Ereignisse im Leben, die eines genauen Datums nicht bedürfen, weil sie nur der Beginn einer Folge von Entwicklungen sind. Ende der Siebziger Jahre muss es gewesen sein und dieser ersten Begegnung gingen mehrere Telefonate mit Frau Dr. Holaubek-Lawatsch[1] voraus. In ihrer Eigenschaft als Kustos des Volkskundemuseums hatte sie auch die Betreuung des Volksliedarchivs, ebenso eine Gründung Viktor von Gerambs, inne. Damals waren beide Institutionen untrennbar mit dem Namen Gundl Holaubek verbunden, wenngleich sie durch die Fülle ihrer Aufgaben, ihrem trachtenkundlichen Schwerpunkt und der dienstlichen Zwänge nur sehr eingeschränkt der Volksliedsache zur Verfügung stand, wie sie mir erklärte. Beachtenswert sind aber nach wie vor die vielen lehrreichen Rundfunksendungen zur Volksliedthematik und ebenso ihre Beiträge zu den jeweiligen Landesausstellungen, um hier Beispiele ihres Wirkens zu erwähnen.

Das Abluchsen von Melodien

Da stand ich nun – wie vereinbart – vor den Toren des Volkskundemuseums und war von Neugierde durchdrungen. Als Musikant war ich es ja gewohnt, die Melodien stets anderen Musikanten abzuluchsen. Damals war es vordringlich der pensionierte Bergmann Lois Blamberger aus Bad Ischl und ältere Musikanten aus dem Ennstal, die mir begegnet sind und von denen ich nicht nur die Melodien, sondern auch die handwerkliche Einstellung aufgesogen habe. Heute noch höre ich Lois Blambergers sonore Stimme und sehe ihn vor mir, die Geige unter das Kinn geklemmt und kurze Bogenstriche ausführend. Die so entstandenen Melodien – meist einstimmige Ländlerfolgen – waren von außergewöhnlicher Vollendung, sie bedurften keiner Effekte und Virtuosität.

Das erste Mal im Archiv

Als solchermaßen mit dem Humus des Musikantentums Beladener, sollte ich nunmehr das Steirische Volksliedarchiv betreten, die Welt der Notenköpfe und in Kurrent festgehaltener Liedertexte. Den eigentlichen Grund meiner Neugierde lieferte der gerade erst gegründete „Geigentag“, (ein Pendant zum Salzkammergut Pfeifertag), den ich mit Freunden ins Leben gerufen hatte, um Zuneigungen zu pflegen und nebenher Melodien auszutauschen. Beim ersten Mal waren wir sechs Geigerinnen und Geiger zusammen gekommen und das genügte uns, um von einem Erfolg zu sprechen. Welche Tanzmusikstücke werde ich also im Volksliedarchiv anfinden, um sie für weitere Geigentreffen meinen Freunden mitbringen zu können?

Meine Vorgängerin – vor den Vorhang

Mit meinen Schuhen schiebe ich den frisch gefallenen Schnee hin und her – und in diesem Moment erscheint Dr. Gundl Holaubek. Vorweg: Noch heute verehre ich sie und übersende Grüße an diese betagte Frau ins Jenseits, deren Lebenslauf so manche Hürde zu meistern hatte und deren Wissen um die Volksmusik in der Steiermark mich immer beeindruckt hat. Und ebenso vorweg: Rein fachlich hätten wir beide nicht zusammen gepasst, sie eine Volkskundlerin und ich ein Nähmaschinenmechaniker. Daraus hätten sich unüberwindbare Differenzen ergeben müssen, haben sich aber nicht. Nein, meine spätere Tätigkeit für das Volksliedarchiv war auch ganz anders ausgerichtet, als jene meiner Vorgängerin. Unser beider Arbeitsstil, das jeweilige Hintergrundwissen und ebenso die daraus abgeleitete Absicht waren grundverschieden. Und dennoch hatte ich das Wohlwollen dieser Fachfrau auf meiner Seite, sodass eine neue Ära beginnen hat können. Für diese Freifahrt, die mir so viele neue Schritte um die Volksmusik in der Steiermark ermöglicht hat, bin ich heute noch dankbar.

Die Annäherung über die steile Stiege

Zuallererst ist mir – gleich bei den ersten Worten der Begrüßung – die gepflegte Aussprache von Frau Holaubek aufgefallen. Ich weiß, dass dies mit ihrer Tätigkeit für den Hörfunk zu tun hatte, mit einer damals für diese Arbeit erforderlichen Sprechausbildung und mit einem auf Sprachpflege bedachten Elternhaus.

Und nun waren wir schon unterwegs, verließen den Museumseingang und suchten den Torbogen zwischen den Häusern Paulustorgasse Nr.5 und Nr.8 auf. Hier traten wir von der belebten Gasse in die winterstarre Gartenlandschaft am Fuße des Grazer Schlossbergs. Über einen schmalen Gangsteig – wie es im Volkslied heißt, wenn nur die Spurbreite eines Menschen gemeint ist – kamen wir in den Bereich des Heimatsaales und zu einer steilen Stiege, die in den Dachboden führte. Die Schlüssel klingelten, während ich einen Blick zurück auf die Dachlandschaft von Graz und zugleich auf den fließenden Übergang in den dichten Baumbestand – einer Oase gleich – des Schlossberges warf. Zu meinen Füßen raschelte braunes Hasellaub, welches der Wind schon im Herbst in die Ecke getrieben hatte. Über die knarrende Stiege gelangten wir zu einer weiteren Tür, hinter der schließlich die Volksmusiksammlung der Steiermark zu finden war.

Eine für meine Zukunft wesentliche Entscheidung

So also begann die Wiederentdeckung eines Schatzes, wobei ich sicher nicht der erste und einzige Besucher war, in dem der Wunsch nach dem Wachküssen keimte. Wir öffneten die Fensterflügel um der abgestandenen Luft zu entkommen und einer eingesperrten Fliege die Freiheit zu geben. Draußen tummelten sich die Spatzen, während mir die Frau Doktor das Mappensystem erklärte und den Katalog vorstellte. Letztlich habe ich viele brauchbare Noten für die Geigenmusik gefunden, die ich einerseits in meiner eigenen Musikgruppe zum Klingen brachte, andererseits für die Notenhefte zum Geigentag zurecht spielte. Als wir später denselben Weg wieder zurückstapften, lud mich die Frau Doktor ein, an einer Hauptversammlung des Volksliedwerkes teilzunehmen. Diese Einladung habe ich angenommen und das war eine für meine Zukunft wesentliche Entscheidung. Die Vollversammlung bestand aus dem Hofrat Dr. Hubert Lendl (Vorsitzender), Dr. Gundl Holaubek (Geschäftsführerin), Prof. Rudolf Schwarz (Musikpädagoge und Liederbuchautor), Prof. Emil Seidel (Musikpädagoge und Liederbuchautor) und meiner Wenigkeit.

Damals, auf der Suche nach Melodien, konnte ich noch nicht erahnen, dass ich imstande sein werde, dem Volksliedarchiv neue Impulse zu geben. Da war noch keine Kenntnis von der 100 jährigen Geschichte, vom Arbeitsausschuss für das Steirische Volkslied, der 1905 von Dr. Josef Pommer[1] ins Leben gerufen wurde und dass zuvor schon 1902 der k.k. Minister für Cultus und Unterricht Wilhelm Ritter von Hartel den Auftrag gab, ein Sammelwerk zur Volksmusik zu erstellen, welches alle Volksmusik des damaligen Vielvölkerstaates erfassen sollte. Und ich wusste noch nicht, dass ich meine beginnende Tätigkeit als ehrenamtlicher Geschäftsführer einmal mit meiner beruflichen Arbeit in der Kulturabteilung des Landes Steiermark verbinden würde können.

Ein exzellenter Kulturpolitiker

Als Unternehmersohn war mir aber Pioniergeist – väterlicherseits – in die Wiege gelegt und daher war die zweimalige Übersiedelung des Archivs – einmal in die Wirtsstube und einmal in das Stöcklgebäude des Volkskundemuseums eine logische Konsequenz, die in einer 1986 zelebrierten erstmaligen Eröffnung des geregelten Archivbetriebes mit Besucherzeiten gipfelte. Dem damaligen Kulturreferenten des Landes, Herrn Prof. Kurt Jungwirth, sei hier für die Hilfestellung gedankt, mehr noch für das uneingeschränkte Vertrauen. Er hat es mir als Vorschuss entgegen gebracht, im Bewusstsein, dass ein Neubeginn stets von der Euphorie gespeist wird, die man nur am Köcheln halten muss. Jungwirth war ein exzellenter Kulturpolitiker, der so für die Volksliedsache ein wesentlicher Entwickler geworden ist, obwohl er mit der Volksmusikthematik nicht gerade vertraut war. Er ermöglichte und wusste, dass nicht gleich die Ernte zu erwarten ist, dass Kulturarbeit einen langen Atem braucht.

Die Musik im Archiv und die Musik im Leben

Das Archivmaterial stand ab nun im Mittelpunkt meiner Überlegungen und Handlungen. Bald wurde eine weitere Folge der Steirischen Liederblätter (Prof. Rudolf Schwarz und Prof. Emil Seidel) ins Leben gerufen und an eine Servicestelle für das traditionelle Musikleben gedacht. Die Welt der vergilbten Belege und wissenschaftlichen Analyse war die eine, die andere war aber meine Begegnungen mit Menschen, deren musikalischer Schatz noch nicht vergilbt war und mein Interesse als Musiker und Sänger mehr und mehr weckte. Beide Teile, die erlebbare Wirklichkeit und die belegbare Vergangenheit waren es, die mich forthin geprägt und den Aufbau einer vielseitigen Dienststelle des Landes ermöglicht haben. Die Faszination dieses dualen Musikerlebens und der damit verbundenen beruflichen Aufgabe war es, die Botschaften entstehen ließ und die suchten wiederum nach einem Transportmittel. Die Folge war das schrittweise Entstehen einer Zeitschrift. Dabei kam mir vor allem Hofrat Dr. Hubert Lendl zu Hilfe. Er, der Volksbildner und damals Vorsitzende des Volksliedwerkes, trug den wesentlichen Teil zu einem neuen Umgang mit Traditionen bei. Seine väterliche Hand leitete mich und auch unsere Zeitschrift durch all die Jahre. Viele Initiativen gingen auf die ausführlichen Gespräche mit ihm zurück, die sich stets um die Spannungsfelder zwischen Archivarbeit und Vermittlung drehten. Von Lendl lernte ich die Sprache differenziert zu hinterfragen, deutliche Botschaften zu formulieren und stets den Kern der Sache nicht aus dem Auge zu verlieren. Sein Credo „Es geht nicht um Volksmusikpflege sondern um Menschenpflege“ hat wesentlichen Anteil an dem Weg, den das Volksliedwerk eingeschlagen hat.

Was ist daraus entstanden?

Die Entwicklung die mit der kleinen Entdeckungsreise ins Volksliedarchiv begonnen hat, lässt sich leicht nachweisen. Einerseits hat sich das Archivmaterial durch die Sammeltätigkeit, Forschungstätigkeit und durch Ankäufe mehr als verzehnfacht. Die Spezialabteilungen „Folk in der Steiermark“, „Neues Steirerlied“ und „Volkspoesie“ sind Folgen des vergrößerten Blickwinkels, die Themenmappen zu allen Fragen des Brauchtums, zur Volkslied und Volksmusik, zu Spannungsfeldern „Schule und Volksmusik“; „Volkskultur und Tourismus“ etc. sind Hilfestellung im täglichen Gespräch mit unseren Kunden. Der internationale Liederdienst ebenso wie die zahlreichen Musik- und Liederhefte aus unserem eigenen Verlag sind Zeugen der Verlebendigung, eigentlich des erfüllten Auftrages, dem Volksliedarchiv durch die Wechselwirkung von Sammeln und Herausgeben einen neuen Stellenwert zu geben.

Am Puls des Musikgeschehens bleiben…

In den letzten beiden Jahrzehnten war die Entwicklung sehr stark von Hans Martschin geprägt, der als Vorsitzender unseres Vereins eine äußerst großzügige und weitsichtige Hand hatte. Mit ihm begannen die regelmäßigen Klausuren für unsere Mitarbeiter, ebenso die Entwicklung eines eigenen Leitbildes. Auch für ihn ist das Volksliedarchiv das wesentliche Kapital unserer Institution. Die stete Entwicklung dieser Kompetenzstelle und das gleichzeitige am Puls des originären Musikgeschehens bleiben, ist ihm ebenso ein großes Anliegen.

Damals also schritt ich durch das große Tor in der Paulustorgasse und entdeckte ein kostbares Juwel. Heute entpuppt sich dieses Volksliedarchiv als umfassende Sammlung, die von mehreren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreut wird. Man möchte meinen, dass der Prozess der Verlebendigung dieses Archivs abgeschlossen ist. Dem ist nicht so, denn bei aller Bewunderung des Umfanges und der heute zur Verfügung stehenden Datenmengen, bedarf es weiterhin großer Anstrengungen, um die Ordnungsaufgaben voran zu treiben, um erst einmal ein modernes und vorbildlichen Archiv zu werden.

Wer immer aber die nächsten Schritte setzt, wird vom Geist profitieren, der über viele Jahre hinweg dieses Archiv beseelt hat. Es ist für viele Sängerinnen und Sänger, für viele Musikantinnen und Musikanten, für Menschen in Stadt und Land ein längst akzeptierter Teil ihres musischen Gedächtnisses, eine Stätte der Anerkennung ihrer klingenden Tradition. Das ist das beste Ergebnis, das wir erzielen konnten.

Die Strategie ist aufgegangen

Das hatte ich mir also in den Kopf gesetzt, gleich nach dem ersten Besuch im Volksliedarchiv: Die Öffnung dieser großen und bedeutenden Sammlung. Damals hatte ich weder mit dem Verein Volksliedwerk etwas zu tun, noch war eine Anstellung im Landesdienst in Aussicht. Letztlich haben besondere Umstände dazu geführt, dass diese ersten Schritte durch den verschneiten Zugang zum Volksliedarchiv meinen Lebensweg bestimmt haben.

Dass der Verein Volksliedwerk unter meiner Geschäftsführung für viele junge Leute Arbeitgeber wurde, erfüllt mich mit besonderer Freude, weil ich einerseits aus der Privatwirtschaft komme und andererseits Jugendarbeit eine meiner frühen Leidenschaften war. Im Arbeitsprozess spielte stets Neugierde, Zuneigung und Respekt eine Rolle. Selbst die besondere Konstellation des Zusammenwirkens zwischen dem Verein Volksliedwerk und dem Landesbetrieb war lange Zeit kein wirkliches Hindernis auf dem Weg zum Erfolg.

Zum Schluss erwähne ich aber noch die mehrmals wechselnden politischen Zuständigen, die mich stets ermuntert haben, dieses Werk fortzusetzen. Das drückte sich auch in der Höhe der Förderungen aus, die zusammen mit den selbst erwirtschafteten Eigenmitteln einen beachtlichen Handlungsspielraum ergaben. Ich vermute aber, dass die kulturpolitische Dimension unserer Einrichtung, die weit über unser Bundesgebiet Beachtung gefunden hat, von meinem Arbeitgeber, dem Land Steiermark, nie wirklich erkannt wurde. Meine Strategie, neue Methoden der Verlebendigung und damit immer wieder neue Zugänge zu den eigenen Traditionen zu eröffnen, war leider keine kulturpolitischen Weichenstellung wert, wie sie in einer schon im Jahre 2003 vorbereiteten Ausgliederung und Verselbständigung, ebenso im Konzept „Haus der Regionen“ hätte aufgehen können.

Ich bin dennoch dankbar, dass ich lange Zeit ungehindert entwickeln und entfalten konnte und nunmehr eine in dreißig Jahren gewachsene Sammlung als Kapital für künftige Generationen weiterreichen kann. Der Weg über die steile Stiege hat sich wahrlich ausgezahlt…


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