Interview mit Hermann Härtel
Mag. Ulrich Pichler führt ein Gespräch mit Prof. Hermann Härtel über Definitionen, zeitgenössische Volkslieder und Traditionen.
Herr Professor Härtel, gibt es eigentlich eine Definition die den Unterschied zwischen Volkslied, Volksmusik und anderen Arten von Musik beschreibt?
Das ist eine sehr komplizierte Geschichte und deswegen ist es eigentlich gescheiter man singt, bevor man Definitionen hin und her stülpt. Es gibt natürlich eine wissenschaftliche Definition, die von einer mündlichen Tradierung, einem Variantenreichtum und einer Veränderbarkeit ausgeht, von einer Musik die immer wieder von den Leuten neu gestaltet wird, von der Verantwortung etwas wegzulassen, etwas neu zu machen. Volkslied klingt sehr nach Spinnweben, ist aber eigentlich viel kreativer wie jede Operette – wo man den Text genauso hinterfragen könnte. Die Frage ist also wissenschaftlich durchaus beantwortbar – aber wer braucht denn das? Brauchen tun wir Antworten für die Praxis, weil immer mehr Leute diese Sehnsucht nach etwas „Echtem“ haben. Wenn jemand einen italienischen Abend macht, dann braucht er diesen echten Parmaschinken und diesen echten Wein. Es ist eine Sucht etwas ganz perfekt zu machen. Das tut dem Volkslied nicht gut, weil damit einbalsamiert wird. Es kann nicht um die Urfassung von etwas gehen, weil das Original ist für das Jetzt zu gestalten. Das Produkt des Augenblicks ist das Kind von Tradition. Das verstehen manche nicht.
Texte von alten Volksliedern beschreiben ja die Lebenswelt der Menschen und Alltagssituationen. Wie schaut das bei zeitgenössischen Volksliedern aus? Gibt es da Lieder die zum Beispiel das Arbeiten in der Fabrik beschreiben?
In der Fülle der Volksliedaufzeichnungen sind jene die klagend sind, eine Minderheit. Im Grunde ist die Musik eher dazu angetan eine Situation freudig zu beschreiben, beziehungsweise sich lustig zu machen – auch über Notsituationen. Diese ganzen Almlieder zum Beispiel, dieses Herausstreichen dieser göttlichen Situation auf der Alm: Heute wissen wir, dass das für oder von einer Bevölkerungsschicht formuliert wurde, die unheimlich gelitten hat. Die Situation im Tal am Hof war viel schlimmer als auf der Alm, wo der Hofherr nur alle 14 Tage vorbeigekommen ist – das war herrlich. Lieder muß man immer auch aus einer gewissen Kenntnis heraus hinterfragen. Es ist natürlich absurd, dass heute vieles unwidersprochen und unerklärt aufgeführt wird. Aber: Gerade bei den Volksliedern gibt es sehr viele, die man wegen der Melodie singt. Sie haben einen völlig veralteten Text, dafür aber eine Art Kennmelodie.
Bei den Liedern die neu entstehen gibt es unterschiedliche Entwicklungen, einerseits Lieder aus dem Bereich des Austropop, zum Beispiel von STS, die Eingang in das „Liedgedächtnis“ der Menschen gefunden haben, andererseits aber auch Lieder die im Bereich der Volksliedchorpflege entstehen, interessanterweise durchgehend alte Inhalte transportieren.
Könnte es nicht sein, dass aufgrund der eher konservativen Ausrichtung der Vereine die diese Pflege betreiben eine Wechselwirkung entsteht, die das Entstehen solcher „altvatrischen“ Texte fördert?
Ich glaube eher, dass das mit dem Verlust eines gewissen Repertoires zu tun hat, von dem man sich getrennt hat. Die Gesangsvereine haben sich von den ganzen patriotischen Gesängen längst getrennt und dadurch ist auch ein Vakuum entstanden. Neues ist jedenfalls nur für ein Ensemble, eine sehr homogenen Gruppe entstanden. Es ist ein Unterschied ob ich irgendwo sitze und die Klage über die Haltung von Haustieren in ein Lied verpacke, oder ob ich für eine Gruppe von Menschen Lieder schreibe, die ihre Singgemeinschaft positiv erleben. Dass sie dann ihr eigenes Empfinden besingen: „wir sitzen glücklich untem Lindenbaum…“ ist durchaus legitim.
Aber wir müssen zwei Dinge grundsätzlich trennen: Das Volkslied lebt nicht nur in Organisationen. Volkslied hat mit Liedgedächtnis zu tun, mit der Musikalität die in jedem steckt. Lieder sind der klingende Teil vom Gedächtnis und dabei verbindet sich Altes mit Neuem, Schlager mit Operettenmelodien. Und: Es wäre ganz falsch zu glauben, das sich Volksmusik nur bei den Traditionalisten abspielt. Noch dazu haben wir heute ein ganz neues Klientel, junge Menschen, die alles andere als ein rückständig-traditionelles Leben führen. Was machen die in der Freizeit?: Harmonika spielen, alte und neue Lieder trällern. Das hat, glaube ich nichts mit einer Sehnsucht nach vorgestern zu tun sondern, es handelt sich da eher um eine sehr aktuelle Art der Traditionsmitnahme, um eine sinnvolle Ausgeglichenheit.
Wer hat denn der Volksmusik mehr geschadet/genützt Attwenger oder Karl Moik?
Attwenger sind klasse Burschen die sich viel getraut haben und einem neuen Verständnis von Volksmusik genützt haben. Das lässt sich mit Karl Moik überhaupt nicht vergleichen. Dass eine doch sehr oberflächliche Schunkelszenerie einen solchen Platz hat, ist eher ein Symbol für gesunkene Kultur. Ich kann dem nichts abgewinnen, nicht einmal anhand gigantischer Einschaltziffern. Jeder Bäcker hat ein Gewissen, jeder Schlosser hat ein Gewissen – warum nicht auch Sendeverantwortliche?
Dennoch: Dramatisieren möchte ich das nicht, es zeigt aber auch auf, wie notwendig permanente Kulturarbeit ist. Traditionen müssen heute verständlich gemacht werden, denn sie sind ein Teil von uns und sie helfen uns, mit der Vergänglichkeit umgehen zu lernen.
Interview für impuls Grün, Nr. 49; 1111 steht nicht für eine Jahreszahl sondern ist das Zeichen für eine noch nicht ausformulierte Quellenangabe. Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.