Den Sauschädl håbns gstohln!

Dem Wort Brauchtum geht ein seltsamer Ruf des uralt Beständigen, fest Geregelten, wenig Dynamischen voraus. Das liegt wohl an uns Menschen, die das Festhalten von Form, Farbe, Termin und Rhythmus als Geländer durch das Zeitgefüge empfinden.

Mag sein, dass dahinter auch ein ausgeprägter Ordnungssinn steckt, dem wir anheim fallen. Kann es sein, dass wir Angst haben, die lieb gewonnen Gewohnheiten ablegen zu müssen? Es wird schon so sein, dass wir im starren Korsett eine Chance sehen, der Vergänglichkeit entgegen zu steuern. Also ist der Versuch, dem eigentlich sehr dynamischen Brauchtumsgeschehen den Status Quo aufzuzwingen, verständlich und damit sei die Ehre aller Brauchtumspfleger gerettet.

Dös wår immer scho so und bleibt a so!

Gerade aber beim „Sauschädl stehlen“ erkennen wir, wie sehr Brauchtum einem puren Zufall zuzurechnen ist und wie sehr ein simpler Diebstahl zum Stegreifspiel verleiten kann. Der Brauch wird eher selten durchgeführt, er hat keinen Termin und keinen Austragungsort, es gibt keine Ankündigung und kein Publikum. Das ist deshalb so, weil das Stehlen des Schweinekopfes nicht immer gelingt. War der Dieb allerdings erfolgreich, werden die notwendigen Rollen jedes Mal neu verteilt. Alle Akteure sind Darsteller, Zuschauer sind nur zufällig am Ort, weil sie zum Haus gehören oder gerade als Gäste im Hause sind. Den Ablauf kennt man nur aus Erzählungen wie es anno dazumal gewesen ist und damit schwankt die Angelegenheit stets zwischen Überlieferung und Kreativität des Augenblicks. Das Spektakel könnte also gar nicht nach Drehbuch ablaufen und die wenigen mir bekannten Ereignisse, hatten jeweils einen anderen Ablauf. Ich selbst hatte stets auch eine Rolle, einmal als Musikant, ein anderes Mal als Verteidiger des Verbrechers. Zuerst bedarf es aber einiger Hintergrundinformation:

Die Schlachttage sind Festtage

Im bäuerlichen Bereich sind Schlachttage stets auch Festtage und dabei zeigt sich auch ein eingeprägtes Sozialverhalten. Die Verwandten, die Nachbarn, die gelegentlichen Helfer am Hof sind Nutznießer, denn der Anlass bietet wieder einmal eine üppigere Mahlzeit, es wird zum Bluattommerl eingeladen und die übers Jahr hilfreichen Hände werden mit einem Stück Leber, Beuschel oder gar Schnitzelfleisch bedacht, welches ihren eigenen Küchenplan bereichert.

Hausschlachtungen sind inzwischen kaum rentabel, weil die Erfüllung der hygienischen Auflagen sich nur für Selbstvermarkter auszahlt, nicht aber bei ein oder zwei Hausschweinen für den Eigenbedarf. Zudem ist heute das Verfüttern von Küchenabfällen wegen gefährlicher Krankheiten streng verboten. Daher gingen also Hausschlachtungen stark zurück und damit auch das dazu gehörende Brauchtum.

Die üblichen Schlachtzeiten sind vor Weihnachten, zu Neujahr bis in den Fasching hinein. Vordringlich wird dies mit den hohen Festtagen zu Weihnachten und Ostern zu tun haben. Für den Weihnachts-Festbraten muss gesorgt sein und der Osterschinken kommt schon im Jänner in die Selchkammer – er hat dann Zeit zum Reifen. Die Winterschlachtung hat aber auch mit der Haltbarkeit des Fleisches zu tun. Einstmals, als man noch ohne Kühlschrank auskommen musste, war die Winterschlachtung eine Notwendigkeit, die Einlagerung in Schmalz, im Getreide oder hängend im Dachgiebel war bei niederer Temperatur eine halbwegs sichere Methode.

Die Stehlbräuche spielen eine große Rolle

Im Österreichischen Volkskundeatlas ist ein großes Kapitel den Stehlbräuchen und Stehlrechten gewidmet (1). Von der Fülle der Stehlbräuche, der Volkskundeatlas nennt 16 Gegenstände, sind uns ja nur mehr wenige bekannt, wie etwa das Brautstehlen und das Maibaumstehlen. Das Sauschädlstehlen – wie es in der Steiermark heißt – gehört zu den Schlachtbräuchen in der Landwirtschaft (2). Deren Ursprung reicht in die Frühzeit menschlicher Kultur zurück. Dabei könnten Sühnevorstellungen gegenüber dem getöteten Tier und abergläubische Abwehrhandlungen eine Rolle gespielt haben. Ebenso muss das Saukopfstehlen zu den Heischebräuchen gezählt werden, also zum selbstverständlichen Recht der Nachbarn, der Dorfkinder und der Armen, einen Anteil abzubekommen. Leopold Schmidt verweist auch auf die Nähe zu den Erntebräuchen innerhalb der Dorfgemeinschaft (3), wobei Geselligkeit stets eine Rolle spielt.

Und so hab ich’s erlebt…

Ganz aufgeregt kam mein jüngster Sohn, er war gerade 10 Jahre alt und wusste von dem Brauch nur aus Erzählungen, zum Hintereingang gelaufen. Er war außer Atem und konnte die Tür nicht öffnen, weil er einen riesengroßen Sauschädl in Händen hielt. Es war ihm gelungen, beim Nachbarn, hinter dem Rücken des Sauabstechers namens Werner, mit dem blutenden Schädel das Weite zu suchen. „Es hat mi neamd gsegn“ hat er aufgeregt gerufen und sogleich haben wir das Diebsgut im tiefen Keller versteckt.

Schon am nächsten Tag erfolgte die telefonische Benachrichtigung. Mit verstellter Stimme gab ich mich als Inspektor des örtlichen Gendarmeriepostens aus und kündigte für Freitag meinen Besuch an, weil im Dorf ein Diebstahl vorgefallen und eine Erhebung durchzuführen sei. Das sollte unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass mit großem Besuch zu rechnen ist. Bei der zu diesem Brauch gehörenden Gerichtsverhandlung mit anschließendem Tanz, ist mit 12 bis 20 Leuten zu rechnen, die alle verköstigt werden müssen. Der Anruf ist gleichsam der Auftakt zu den Vorbereitungen auf der Seite des Diebes, ebenso aber auch auf Seite des bestohlenen Bauern.

So weit die Teilwiedergabe eines tatsächlichen Sauschädlstehlens, das sich in meinem Dorf im Jahre 2005 zugetragen hat. Zum besseren Verständnis nun eine Aufzählung der weiteren Ereignisse im Zeitraffer:

Die Verteilung der Rollen

Der Dieb organisiert sodann die Rückgabe des Saukopfes, das Dekorieren desselben und die dazugehörende Gerichtsverhandlung. Ein oder mehrere Musiker sind notwendig, um den Einzug des Gerichts und die Unterbrechungen der Verhandlung zu bewerkstelligen. Ebenso braucht man ein oder zwei Polizisten, die den Dieb vorführen. Obligat sind auch Verteidiger und Richter, ebenso eine kecke Sekretärin, die alles zu Protokoll nimmt. Wenn weitere Personen greifbar sind, werden auch die Rollen eines Jägers, eines Wildschützen, eines Tierarztes, eines Pfarrers, eines Bürgermeisters oder eines Versicherungsvertreters vergeben.

Der Schweinskopf wird mit Buchsbaum oder Tannenreisig festlich geschmückt und mit bunten Bändern, Äpfel als Ersatz für die fehlenden Augen, einer Sonnenbrille und einer Zigarre dekoriert. So wird aus dem nackten, toten Kopf eine sympathische, vor Gemütlichkeit lächelnde Sau. Meist werden noch – als Ausgleich für die herausgeforderte Gastfreundschaft ein Packerl Kaffee, Würstl und Wein (ähnlich einem Geschenkskorb) sowie Süßigkeiten für die Kinder des Bauern dazugelegt.

Der Dieb, der Sauschädl und der Polizist

Nun wird ein Tragegestell gerichtet. Meist verwendet man eine kurze Leiter mit eingesetztem Nudelbrett und bettet den Sauschädl mit allen Beigaben zusätzlich auf ein weißes Tischtuch. Nun geht es los: Der laut juchzende Umzug wird von der Musik angeführt, dahinter folgen der gefesselte Dieb, der von den Polizisten mit viel Mühe in Schach gehalten wird, die Sauschädlträger und die einzelnen Darsteller, die allesamt viel Zeit aufgewendet haben, um sich die notwendige Verkleidung und dazugehörende Utensilien zu beschaffen.

In der guten Stube des Bauern versammeln sich die ganze Gesellschaft und die bestohlenen Hausleute. Zu dieser Zeit ist aus der Küche schon ein verführerischer Duft wahrzunehmen, Getränke werden gereicht und die Musik spielt solange, bis schließlich der Herr Richter auf sein großes Buch klopft und die Verhandlung eröffnet.

Der Freispruch und die Verurteilung

Der Ausgang vorweg genommen: Bei der Sauschädel-Gerichtsverhandlung wird nur scheinbar der Dieb vorgeführt und angeklagt. Die Zeugenaussagen und Expertenbefragungen bewirken aber seinen eindeutigen Freispruch. Es zielt alles darauf ab, die Hausleute wegen mangelhafter Aufsicht und Verwahrung zu verurteilen und das Urteil lautet jedes Mal wieder: Verköstigung mit Essen und Getränke für das hohe Gericht, für die Darsteller und die Musik.

Der Ablauf der Verhandlung – sie kann durchaus drei Stunden dauern, ist dem Geschehen vor Gericht nachempfunden. Zu allererst darf der Polizist berichten, wie der den Dieb gefangen hat, dann werden Zeugen, die Hausleute und Nachbarn vernommen und schließlich darf der Verteidiger des angeklagten die Schuldlosigkeit vortragen. Es gibt Unterbrechungen, wobei ein immer wiederkehrender Anlass, die dürstende Musik ist. Eine besonders interessante Rollen spielte bei dem oben genannten Ereignis der Tierarztes, der etwa behauptete, dass sich ein Schweinskopf nach der Schlachtung –auch ohne Rumpf – selbstständig machen kann. Eine ähnliche Rolle spielte auch der Versicherungsfachmann, der auf die Sauschädlbündelversicherung hinwies, ein wirklich günstiges Angebot, welches die geizigen Bauern nicht in Anspruch nehmen. Fazit: „Nun sehen wir uns wegen des Diebstahls vor Gericht…“

Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück und vermeldet nach wieder erfolgtem Einzug das Urteil: Dieb freigesprochen, Besitzer der Sau wegen mangelnder Aufsichtspflicht zur Verköstigung der gesamten Gesellschaft verpflichtet. Das Essen wird aufgetragen und später wird noch bis in die Nacht hinein getanzt.

Der selbst inszenierte Ausritt aus dem Alltag

Das Sauschädlstehlen ist eine Belustigung der Dorfgemeinschaft und Nachbarschaft, ebenso aber versteckt sich dahinter die unverhohlene Freude, selbst einmal Gericht zu spielen und die Rolle der Obrigkeit zu persiflieren. Nicht hoch genug einschätzen muss man die Herausforderung an alle Teilnehmer, sich auf das Rollenspiel einzulassen und dem Richter die unglaublichsten Beobachtungen freiweg aufzutischen. Wie bei jeder geselligen Unterhaltung die mit Gastlichkeit gepaart ist, spielt natürlich der Konsum von Alkohol eine Rolle. Das mag manches Mal eine Gratwanderung sein – so zwischen lustig und gerade noch erträglich. Ich kann von gelungenen Gratwanderungen berichten und vor allem, dass sich manche Dorfbewohner als wahre Begabungen im Stegreifspiel entpuppen. Ich erinnere mich an köstliche Stunden mit geistreichen Dialogen. Alles wegen eines mutwillig gestohlenen Sauschädls…

1 Wolfram, Richard: Burschenschaftsbrauchtum. Das Stehlen. Stehlbrauchtum beim winterlichen Schweineschlachten. In: Österreichischer Volkskundeatlas, Wien 1968, 3. Lieferung Bl. 45.

2 Falkenburg, Hans: Das Saukopfstehlen. Darstellung und Bedeutung eines Stehlbrauchtums. In: Oberösterreichische Heimatblätter, Linz 1980, Heft 1/2 S.60ff.

3 Schmidt, Leopold: Volkskunde von Niederösterreich, Horn 1966, Bd. 1, S. 366.


Bayerische Sänger- und Musikantenzeitung, München, 5/ 2007; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.