Hubert von Goiserns Hiatamadl

Die besten Kochrezepte sind natürlich jene, die man im Kopf hat, und die man mit einer lieben Erinnerung an jene Person verbindet, die einem das Rezept anvertraut hat.

Die liebsten Lieder sind uns immer jene, welche wir selber singen können. Oftmals sind sie mit Gedanken an eine bestimmte Zeit unseres Lebens oder an eine bestimmte Person, deren Stimme wir heute noch in uns klingen hören, verbunden. So hat jeder von uns seine Lieblings… und muss eigentlich des anderen Lieblings… gar nicht verstehen, dessen Vorlieben nicht teilen. Er kann eben Bedeutung und Hintergrund nicht ermessen. Die Kritiker von Volksliedern meinen, auch über andere Lieder urteilen zu müssen. Nämlich über jene, die sie nicht selbst besitzen. In Ermangelung einer tieferen Kenntnis – nämlich einer über Text und Melodie hinaus – geben sie sich zeitgemäß, wenn Sie meinen: Volkslieder sind veraltet, derb, die Texte sind von Gestern, teilweise frauenfeindlich. Also: Neue Lieder braucht das Land…

Da gibt es aber eine musikalische Alltagssprache…

In den letzten Jahren habe ich mir allzu oft anhören müssen, dass unser altes Volkslied nicht mehr singbar ist. Eine Erneuerung sei angebracht, die mangelnde Aktualität der Texte ist schuld an einer zunehmenden Sing- Enthaltsamkeit. Nun stellen wir bei Feldforschungsfahrten aber immer wieder fest, dass es Überlieferung als ein kräftiges Lebenszeichen der musikalischen Alltagssprache gibt. Es sind die Lieder, die Bewährung erfahren haben, die für die Träger dieser Tradition einfach viel bedeuten, gleichgültig welchem Typus sie zuzuordnen sind. Ich hab‘ mich immer als Anwalt dieses Musikgebrauchs und -gestaltens gefühlt und beim Hervorheben dieser außergewöhnlichen musikalischen Potenz allzu oft Unverständnis erfahren.

Überrascht hat mich, dass viele Menschen, von denen ich das Verstehen musikalischer Tradition, der Musikalität außerhalb des üblichen Bildungsweges erhofft hätte, dem neuen Alpenklang – Rock auf Anhieb uneingeschränkte Sympathie entgegenbringen. Der bislang Volkslied-Abstinenzler greift zum unverdächtig Neuen, er findet im Steirer-Blues seine Wurzeln, im Jodeljazz endlich seine runderneuerte Volksmusik und im senkrechten Harmonikaspiel eine Brauchtums abgewandte Innovation. Und die Textinnovation? Wer nun geglaubt hat, dass aktuelle Inhalte vermittelt werden müssen, damit Lieder heute angenommen werden, wird eines Besseren belehrt. Weder „Warum bloß arbeitslos“ noch „Die Liab braucht nur an Gummibam“ haben den großen Renner gemacht, sondern „Koa Hiatamadl“, dessen eher harmlose textliche Überlieferung nun mit nicht gerade frauenfreundlicher Innovation gespickt wird.

Des Hiatamadls Durchbruch

Der Schreiber dieser Glosse kann nicht in den Verdacht geraten, ausschließlich das vor rund hundert Jahren aufgezeichneten Hiatamadl samt seinen dicken Wadeln für musikalische Darbietungen zulassen zu wollen. Da mag doch kommen wer will und diesen Tanz für den Domchor bearbeiten oder zur Grundlage eines symphonischen Werkes machen. Sympathisch wäre es gewesen, wenn „von Goisern“ mit nur vier Buchstaben nämlich „trad“ darauf hingewiesen hätte, dass er „koa Hiatamadl“ bei seinen eigenen „roots“ gefunden hat. Auch dem Verlag wäre zu raten gewesen, das Hiatamadl nicht unbedingt als neue Komposition auszugeben, wie er es ausdrücklich formuliert. Das ist es aber nicht, was mir aufstößt. Eher ist es die Bemerkung, dass mit diesem „Koa Hiatamadl“ der „Durchbruch“ gelungen sei. Damit meint man eine übermäßige Reaktion der Hörer-, Seher- und Käuferschichten unterstützt durch das besondere Interesse der Medien.

Das drohende Ablaufdatum des Durchbruchs

Ist es nicht überhaupt ein Trugschluss von einem Durchbruch zu sprechen, wenn schon jetzt anzunehmen ist, dass wir uns in ca. eineinhalb Jahren koa „Hiatamadl“ mehr anhören wollen und können? (siehe Zillertaler Hochzeitsmarsch). Während den CD-Produzenten das Ablaufdatum ihrer Highlights durchaus bewusst ist, orten Kulturredakteure und Zeitungsfritzen eine neue „Volksmusik ohne Zopf“.

Zur gleichen Zeit kann man auf irgendwelchen steirischen Tanzböden die Hiatamadl – Melodie anspielen. Nicht wenige der Paare werden, obwohl seit der ersten Aufzeichnung fast 100 Jahre vergangen sind, die richtigen Tanzschritte finden. Jo mei, wenn das nicht ein Durchbruch ist…


Der Vierzeiler, Glosse 1-2/1993; Sätze und Gegensätze, Band 10/ 1999; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.