Eine Hommage an das Viertel Wein und das Weinviertel
Manche Orts- und Landschaftsnamen leuchten uns wie Etiketten entgegen und wecken zumal Erinnerungen. Ich denke exemplarisch an die sächsische Stadt Meißen, die für feinstes Porzellan steht, welches meine Großeltern mit Argusaugen im Glasschrank hüteten. Ebenso an Luttenberg, heute Ljutomer in Stajerska gelegen, früher Untersteiermark genannt. Ein Luttenberger durfte in den besten Häusern der alten Monarchie nicht fehlen, wenn das Glas auf den Kaiser gehoben wurde. Und so sind uns viele Städtenamen geläufig, weil wir sie mit der Kohle, dem Stahl, dem Porzellan oder dem Wein in Verbindung bringen.
Mit Retz geht’s einem ebenso. Die Stadt steht für die hohe Kultur des Weinbaues, ebenso für die Tiefenlegung der Stimmung – in den Keller hinunter, wo sich beim Anstoßen auf das Leben vieles verflüchtigt, was oben in der Alltäglichkeit noch als Last empfunden wurde. Die Stadt und ihre Umgebung stehen aber auch für eine Landschaft im Rebenstock-Rhythmus, vertikal und horizontal sind die Linien gezogen, dazwischen sind die ziegelroten Giebel der Winzerhäuser Inseln für das Auge. Die Dachlandschaft ist die farbliche Konstante, während die Weingärten ein unvergleichliches Wechselspiel der Schattierungen und Farben bieten. Da steh ich staunend mitten drinnen und denke, dass es ein prachtvolles Land ist, zugleich ein fruchtbares und kulturell bedeutendes. Also richte ich meine Schritte neu aus, mit Zielrichtung Stadtmitte. Die Neugierde rät zum Verweilen, die Vernunft zum Nächtigen, den – so sagt es mir die Erfahrung – ein Abend im Weinviertel wird sich ohne zwei bis drei Viertel Wein nicht spielen.
Die alte Weinstadt Retz
Für alle aber, denen ich jetzt die Sehnsucht nach dem Mittelpunkt des Weingenießens wach küsse, seien die mageren Distanzen genannt: Nur rund eine Stunde von Wien, dreieinhalb Stunden von Salzburg oder knapp fünf Stunden von München entfernt liegt das Ziel der Weinträumerei. Hier paaren sich Gastfreundschaft mit der Gemütlichkeit und mit hochwertigen Angeboten. Dazu zählen die Ausflüge aufs Land und in den Nationalpark Thayatal ebenso, wie das Verweilen in die Stadt selbst mit ihren einzigartigen Kellergassen und dem Erlebniskeller. Auch dem Bewegungsdrang wird Rechnung getragen: Hunderte Kilometer von gut ausgeschilderten Rad- und Wanderwegen verführen zu ausgedehnten Ausflügen, vorbei an Naturdenkmälern und mitten durch die Weingärten. Dann und wann gibt uns ein schattiger Gastgarten Gelegenheit, auf das Dasein anzustoßen. Das klingt nach einer erstrebenswerten Variante für den morgigen Tag.
Am Retzer Hauptplatz angekommen halte ich inne. Er vermittelt ein beinahe südliches Flair. Er ist einer der größten Österreichs und mit den prächtigen Bürgerhäusern eine Augenweide. Das Rathaus – mit seinem markanten Turm – beherbergt übrigens eine Kapelle mit wertvollen Wand- und Deckenmalereien. Über eine schmale Wendeltreppe mit 128 Stufen komme ich in die 30 Meter hoch gelegene Türmerstube und genieße den Ausblick auf die Weinstadt Retz und die nahe Umgebung ohne noch zu ahnen, wie tief ich schon bald sinken werden.
Im Retzer Erlebniskeller
Unter dem Stadtkern verbirgt sich ein Geheimnis und das lockt mich in die Tiefe. Der Retzer Erlebniskeller – Österreichs größter historischer Weinkeller. Da unten im Kellerlabyrinth herrscht konstant eine Temperatur von ca. 10° Celsius und das lässt mich leicht frösteln. Die unterirdischen Gänge sind länger als das oberirdische Straßennetz, nämlich etwa 20 Kilometer. Dieser großzügige Ausbau ist auf ein Privileg zurückzuführen, das Kaiser Friedrich III. 1458 der Stadt Retz verliehen hatte. Ob solch eindrucksvoller Geschichte und der unterirdischen Ausmaße ist mir – trotz niedriger Temperatur – warm ums Herz. Retz war offensichtlich schon sehr früh eine Drehscheibe des Weinhandels. Damals diente das Labyrinth als Weinlager und der gute Tropfen wurde bis St. Petersburg geliefert. Heute ist die gesamte Anlage ein „Schau- bzw. Erlebniskeller“. Beim unterirdischen Spaziergang in den Gewölben, die mit modernen Licht- und Toneffekten zum „Mythos Wein“ attraktiv gestaltet wurden, kann ich die Geschichte des Weinbaues nacherleben und lerne gleichzeitig die Historie der Stadt mit ihrem imposanten, unterirdischen Netzwerk kennen.
Der Wein und seine Feste
„Wo Wein, da Kultur“- so einfach ist es auf einen Nenner zu bringen, denn Weinbau ist nicht nur ein wirtschaftlicher Erwerbszweig. Um ihn ranken sich Rituale und Feste in großer Zahl. Die Weinwoche ab Fronleichnam ist die Leistungsschau der Winzer der Großlage „Retzer Weinberge“ und am letzten Septemberwochenende steht das Retzer Weinlesefest im Kalender. Der Winzerumzug und das Riesenfeuerwerk sind nur zwei der Höhepunkte. Daneben aber und zwischendurch lohnt es sich, die vielen „kleinen“ Wein-Feste aufzusuchen, die offenen Kellertüren in den Gemeinden Schrattenthal und Zellerndorf, den Retzbacher Weinherbst mit seinen „Weinplaudereien beim Winzer“. Das sind alles gute Aussichten für einen touristischen Wiederholungstäter oder für einen spontanen Ausrutscher aus dem profanen Alltag. Das beste Beispiel bin ich selbst: So zwischendurch neugierig gewesen, habe ich mich einfach aufgemacht und bin geweinlandet. Es wäre schade gewesen, Retz nicht heimgesucht und meine Nase in keines der Gläser gesteckt zu haben.
Wer mehr davon haben will, von Land und Leute und vom Leben selbst, dem sei empfohlen, die Ehrenhaftigkeit und den berechtigten Standesstolz der Winzer mit jedem Glas mit zu trinken. So kann Berufsethos und Lebensfreude auch am eigenen Gaumen hängen bleiben.
Gwandhaus Journal, Salzburg, 2013; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.