Sind wir noch zu retten?

Der Vergleich ist zugelassen: Die Jahrhunderte alte Tabakkultur, der Anbau und die Veredelung der Pflanze, die Salonfähigkeit des Rauchens und die rasche Entwicklung zum geliebten und berauschenden Laster endet nun im Krieg zwischen den Befürwortern und den Gegnern – und schließlich in getrennten Räumen. Der Siegeszug der Musik, von den kultgetragenen Urtönen bis zur Hochblüte der letzten Jahrhunderte, von der Konservenerzeugung bis zur Nonstopsendung und Verkabelung in jedwede Ecke, endet nun in der Forderung nach einer Pause. So quasi: Jetzt ist Schluss, denn auch eine Überschwemmung mit feinstem Trinkwasser ist eine Katastrophe.

Sind wir noch zu retten? Wie bitte?

Da staunen Sie: Eine Musikinstitution fördert die Auszeit von Musik, nicht die kurze Pause zwischen zwei Sätzen oder zwei Tönen, sondern überhaupt die Auszeit. Demnach müsste ein Gastronom den leeren Teller herumreichen um ihn Stunden später erst zu füllen, wenn der Hunger uns an den Magenwurzeln nagt. Sind wir noch zu retten? Beantworte ich nicht! Soviel ist aber sicher: Musik verkommt zur Dauerwurst und macht uns ohrstumpf und sinnfad. Wir setzen also mit der Kennzeichnung musikfreier Räume eine erste stumme Handlung, um wieder einen Anlegeplatz auf der Insel der Seligen zu ergattern. Wer mit uns die Kreuzfahrt ohne Lautsprecher antreten möchte, möge sich bald anmelden, wir sind beinahe ausgebucht.

Das Ohr, die Stille und die Pause

Der Zusammenschnitt der Beiträge in dieser Vierzeiler-Ausgabe entpuppt sich als Manifest: „Die Gefahr der neuen Ohrzeit ist deren Maßlosigkeit“, so formuliert Bernd Chibici, während Hannes Doppelhofer das Schweigen als integrativen Bestandteil von Musik bezeichnet und Pater Gebhard mit den Zitaten aus der Heiligen Schrift einen Bogen zu den Notwendigkeiten des Menschseins spannt. Daniela Stief –Toster führt uns in die Welt des Hörens und der Stimme, die sie als akustischen Fingerabdruck bezeichnet. Karin Tausch schreibt über die Faszination der gereinigten Atmosphäre als eine Raum-und-Stille-Harmonie und Paul Leonhard trägt mit seiner Satire zum Lebensrecht des Nichts bei. Schließlich berichtet Andrea Seiler von einer seltsamen Angst der Menschen vor der Stille – sie könnte nämlich stören.

Stille kann nie zu üppig sein

Dass sich keiner der Beiträge dem Weihnachtsfest widmet, ist die Unwahrheit. Alle Teile des Ganzen sind regelrecht zugeschnitten auf Weihnachten und die Erkenntnis, dass uns allen Verantwortung übertragen ist. Der akustische Umweltschutz ist wie Weihnachten auch keine Großveranstaltung, keine Theaterspiel, keine schöngeistige Installation, bei der wir uns nur eine Tageskarte kaufen dürfen. Es funktioniert alles nur mit dem Funken Einsicht und der Gestaltungskraft Vieler. Insofern gilt die Verordnung zur Mülltrennung auch für die akustische Feintonbelastung bis hin zum Tonmüll. Und: Die Verordnung gilt auch für Weihnachten, nach dessen tiefen Sinn wir stets unter eine Lawine von putzigen Accessoires suchen.

Her mit dem Weniger

schreit da jemand durch die Kaufhalle und rafft sich für die Feiertage ein paar Gustostückln zusammen. Von dem Nichts gleich eine 6er Packung und von der Stille zwei Kilo. Viele gehen leer aus, weil sie vom Nichts nur mehr eine entfernte Ahnung im Regal finden und ihnen die Stille zwischen den Fingern zerrinnt.

Fürchtet Euch nicht ob solcher erfundenen Geschichte. Verlasst Euch auf das gute Mittelmaß und die feinen Sinne. Tragt selber Kultur, tippt selber zeitgerecht auf den Ein- oder den Ausschalter, denn: Dass uns „napf&tisch“ die Stille portionsweise im Familienpaket anbietet, wird eine unverschämte Überzeichnung bleiben.


Leitartikel in „Der Vierzeiler 4/2006 zum Thema Lautstärke und Beschallung. Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.