Von klingenden Traditionen

Heimatsuche im Musikösterreich

Sagen Sie es doch ehrlich: Sie mögen Musik, haben Ihre Lieblingsband und den Lieblingsinterpreten, auch einen Lieblingskomponisten, machen aber „zu„, sobald Sie das Wort Volksmusik hören.

Sie machen erst wieder auf, wenn es um die Volksmusik der anderen geht, aus anderen Ländern und Kontinenten, dann sehnen Sie sich nach der Kenntnis des Eigenen und suchen vergebens in Ihren Lebenserinnerungen. Sie stehen nicht alleine da und deshalb ist dieser Beitrag für Sie geschrieben, sozusagen ein „Fenster auf„, um den Blick in eine eigentümliche Welt der Musik zu werfen, die eben nicht allen gleichermaßen offen steht.

Volksmusik ist zuallererst einmal kreativ

Da beginnt nämlich auch schon das Dilemma: Der Bezug zu Volksmusik ist kein Pflichtgegenstand. Das mag es auch schon einmal gegeben haben: die Pflichtvolksmusik, die den fehlenden Heimatbezug wettzumachen hatte und die Gattung Volksmusik vor dem Vergessen retten sollte. Nein, die Beziehung zur Volksmusik ist eher Zufall und hängt davon ab, in welcher Familie, in welcher Orttradition man aufgewachsen ist, welche Klänge man immer schon gehört und nachgemacht hat. Volksmusik ist ein klingendes Band von Erinnerungen, genährt von Veränderungen und Hinzufügungen und ist damit eine äußerst kreative Angelegenheit – wenn wir sie leben lassen. Freilich, Hindernisse der Entfaltung von Volksmusik gibt es genug, denn so vielfältig wie die Österreichische Volksmusik erklingt, so vielfältig ist sie ihren Freunden entweder Freizeitbeschäftigung, Verkaufsprodukt, Vereinsinhalt oder eben auch einer von vielen Sinnstiftern.

Die totgepflegte, musealisierte, entkernte Volksmusik.

Mit wie viel Krampf unsere Volksmusik schon gepflegt, dabei totgepflegt wurde, wie sehr sie auf die Bühne gezerrt und für Heimattümelei missbraucht wurde, möchte ich hier gar nicht ausbreiten. Fest steht, dass sie sehr rasch zum Versatzstück verkommt – das gilt ja auch für andere „wiederentdeckte“ brauchtümliche Handlungen. Da bleibt von den schönsten Liedern nur mehr die stumpfe Tonfolge, eine entkernte Angelegenheit. Sie kennen den schalen Geschmack: Es ist der spürbare Verlust von Überzeugung und Erfahrung, Fehlen einer Zeitenspanne des Gebrauchs, in welcher Melodien auch „zeitig„, also reif werden können. Unsere Zeit ist aber eine des sofortigen und gnadenlosen Zugriffs, des Bereithaltens jedweder Kunst. Damit meine ich nicht nur die Tatsache, dass Volksmusik griffbereit im Regal liegt, sondern auch, dass sie all überall unterrichtet wird. Der Weg vom Nichtmusiker zum Volksmusiker ist ein viel zu kurzer und er orientiert sich daher an den Vorlagen, anstatt an den Vorbildern.

Volksmusik und Volkslied haben aber eigene Lebensgesetze. Sie unterliegen unter anderem den Gesetzen der Notwendigkeit und des Zufalls. Volksmusik ist nicht vordergründig innovativ, ihre Besonderheit liegt im Aufwärmen alter Erinnerungen, in der Ernsthaftigkeit bei der Übernahme des Originals und in der Akzeptanz der Fehlerquellen bei der Weitergabe. Volksmusik ist generationenverbindend, sie ist eine Knetmasse, die im Augenblick des fertigen Zustandes ihre Hochblüte bereits hinter sich hat.

Noch nie wurde so viel volksmusiziert!

Wenn ich Ihnen den gegenwärtigen Zustand der Volksmusik in der Steiermark schildere, dann  natürlich unter Einbeziehung all dieser Facetten von Musikleben (Freizeitmusik, Musiklehrstätten, mediale Verbreitung, Vermarktung), denn die Volksmusik lebt inmitten dieser Vielfalt und deren Wechselbeziehung. Ich gestatte mir daher eine Prognose, die vorerst einmal verwundert: Noch nie wurde so viel volksmusiziert. Die fast flächendeckende Versorgung mit Musikunterricht, die Popularität der Volksmusik und der typisch steirischen Volksmusikinstrumente, sind die Grundlage für ein reges Interesse und für den relativ frühen Einstieg Jugendlicher in die traditionelle Melodienwelt. Darüber hinaus widmen sich viele Chöre teilweise oder vorwiegend dem Volksliedsingen, zudem treten zahlreiche Instrumental – und Gesangsgruppen in der Öffentlichkeit auf, werden zu Veranstaltungen eingeladen und füllen auch die CD-Regale der Musikhäuser. Beachtlich ist auch der weibliche Anteil am Musikantenpodium – eine Entwicklung der letzten zwanzig Jahre. Diese Erfolgsmeldung lässt sich relativ leicht belegen, denn Volksmusik ist in dieser Form präsent und spielt auch in kleinen und größeren Gemeinschaften eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Da gibt es jedoch eine noch tiefere Verwurzelung

Wenn Volksmusik aber als Ausdruck des Gebrauchs der eigenen Musikalität, des Einsatzes dieser Musikalität im Brauch, als klingender Dialekt und generationenübergreifendes Kommunikationsmittel gemeint ist, dann wird es schon etwas schwieriger, den derzeitigen Zustand zu beurteilen. Sagen wir es so: Ungeachtet aller Befürchtungen, dass unsere Überlieferung von aktuellerem Musikgeschehen verdrängt oder nur mehr in Pflegeheimen hochgehalten wird, stellt die Forschung einen konstanten Überlieferungsvorgang fest. Unsere kleinen Feste und Zusammenkünfte auf der Alm, im Familienkreis und dem örtlichen Gasthaus sind nach wie vor die Keimzelle für musikalische Geselligkeit und damit auch für Volksmusik. Das Steirische Volksliedarchiv verfügt über zahlreiche Belege dieses pulsierenden Geschehens, eigentlich: der musikalischen Selbstversorgung. Dabei ist aber auch feststellbar, dass gerade dieses freie Musikleben eine beachtenswerte Stil- und Gattungsvielfalt zulässt. Nicht wenige Folkmusiker haben so den Zugang zur heimischen Volksmusik gefunden. Und: Geradezu absurd ist es ja, von einer Trennung der „Volkstümlichkeit„, von der „Echtheit“ zu reden. Das sind Vorstellungen, die sich hier nicht bestätigen. Vielmehr genießen die Menschen den freien Zugriff auf altes und neues Repertoire, auf Schlager ebenso wie auf Chorlieder und die bewährten alten Almlieder der Steiermark. Zuguterletzt sei aber auch darauf hingewiesen, dass sich in dieser gerade beschriebenen Volksmusikwelt, ebenso viele andere Welten treffen. Es sind zum Beispiel die jungen Musikstudenten, die über die Kunstmusik auf Volksmusik aufmerksam werden und zugleich auch die musikalische Überlieferung entdecken. Gewährsleute und die jungen Künstler erobern und erproben gemeinsam die Welt der Volksmelodien. Hier hat Volksmusik seinen tieferen Sinn, Beheimatung und zugleich die größten Chancen.

Was hat sie, die Volxmusik, was die Volksmusik nicht hat?

Die vielen Mischprodukte, die unter dem Titel „Volxmusik„ wohl sehr oberflächlich zusammengefasst werden, entstammen eigentlich einer tiefen Sehnsucht nach Heimat und zugleich der Ablehnung vorhandener Volksmusik-Klischees. Wenn ich die Interpreten verstanden habe, haben sie die Spielwiese Volksmusik betreten, um ihre eigenen Vorstellungen und Musikvorlieben mit traditionellen Vorgaben zu verquicken. Das ist ihnen durchaus gelungen, manche Musikstücke haben der Jugend einen neuen Zugang zur Volksmusik freigelegt. Der Volx- und Schrägmusik-Feldzug der letzten Jahre – durch viele Veranstaltungshäuser und Kulturzentren – hat der Volksmusik ein weiteres Plus eingetragen: Unsere Volksmusik, sie ist beständig und geduldig, verträgt sogar manche Verulkung. Zahlreiche Kabarettgruppen nehmen ihre Melodienwelt als Grundlage für grandiose Bearbeitungen, sie legen ihr zeitkritischen Texte über die bewährten Volksmelodien. Alles in allem: Eine faszinierende Spielwiese mit so manchen Höhepunkten und beachtlichen medialen Erfolgen. Letztlich entpuppt sich aber die Volksmusik als der große Ideenspender, denn die Grundmuster entstammen allesamt der beachtlichen Vielfalt volksmusikalischer Erinnerung. Die sogenannte „Neue Volksmusik“ hat also – in Anbetracht der Geschichte und Kraft der Volksmusik – wenig Beständigkeit bewiesen. Der mancherorts hörbare Wunsch nach einer Runderneuerung der verstaubten Volksmusik ist nicht erfüllt worden. Ja, die Innovation von Volksmusik muss sich im Gebrauch abspielen, bei den Randbedingungen und ist keine Frage der Interpretation.

Trägt Volksmusik zur Beheimatung bei?

Volksmusik ist musikalische Erinnerung, also rückwärts bezogen und nicht vordergründig erneuerungsbewusst. Damit ist Volksmusik aber auch eine von vielen Menschen gesuchte Konstante und damit eine von vielen Möglichkeiten, um Beheimatung zu erleben. Ist es ein Wunder, dass in einer Zeit der Globalisierung und des medialen Transports jeder noch so komischen Neuentwicklung, den Menschen jene Töne willkommen sind, in denen sie Sesshaftigkeit erleben? Wie überall, so gibt es auch bei den Anhängern der Volksmusik einen Hang zur Übertreibung, den Wunsch nach Popularität und nach öffentlicher Anerkennung – vielleicht sogar einer patriotischen Heimat-Position. Das tut aber der Offenheit und Neugierde gegenüber der Musik anderer Kulturen keinen Abbruch.

Im positivsten Falle des heutigen Gebrauchs traditioneller Lieder und Musik ist sie zuallererst Übereinstimmung mit dem Gegenüber, sei es die Familie, seien es Freunde oder die nähere Nachbarschaft. Volksmusik hat hier den feinsten Gehalt und tiefen Sinn und bedeutet für viele Menschen „zu Hause sein„ in einer Musikwelt, die ihre emotionalen Hoch–Zeiten bereichert und bei der man nicht auf einen Termin im Kulturplan warten muss. Volksmusik hat also mit Beheimatung zu tun, wegen ihrer wieder erkennbaren musikalischen Gestalt, aber auch weil sie ein Kollektivbesitz ist und der engen Heimat Größe verleiht.

„Dort wo ich den Lichtschalter finde„ ist zwar eine gar saloppe Antwort auf die Frage nach dem Zuhause. Bei der Volksmusik könnte sie uns als Gleichnis dienen: Je leichter uns der Griff in die musikalische Schatzkiste unseres Landes fällt, desto lockerer sind sie uns auf den Lippen, die älteren und neueren Gesänge. Auch ohne Schalter sollte uns ein Licht aufgehen: Es sind die aus Bewährung geformten kleinen Tonfolgen, es sind die Kreationen des Augenblicks auf Du und Du in Partnerschaft, Familie und Nachbarschaft, denen all die großen Entwürfe entspringen, die einer besseren Welt dienen. Die Geschichte mit dem Lichtschalter ist gut, weil sie alter Gewohnheit und damit auch dem Wort Tradition den oftmals schlechten Geschmack nimmt, uns zugleich aber auffordert, die vielen Abstufungen zwischen Licht und Dunkel selbst zu dosieren.


Beitrag für die Zeitschrift „Zeit_Schritte“, 6/ 2002, S 33-35; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.