Das Ländliche in der Stadt….

Der Kontrast zwischen dem Leben am Lande und dem Leben in der Stadt ist auffällig fürs Auge, fürs das Ohr und ebenso für die Nase.

Da der Duft von Wiesen, dort das Gemisch von Abgasen, Küchendunst und Kanal. Da der unendliche Blick über Wiesen und Felder, dort der über Dächer und deren Schornsteine. Da das Gezirpe im Grünen, dort das Schleifen und Ächzen der Straßenbahnen. Aber Vorsicht: Diese sinnlichen Eindrücke lassen sich zurechtbiegen in positiven – weil aromatischen – Küchendunst, in malerische – weil ins Abendlicht getauchte – Dächerfelder und in liebenswerte – weil längst melodiös empfundene Straßenbahngeräusche. Ja, zurechtbiegen, dann nämlich, wenn diese Wahrnehmungen entsprechende Ergänzungen erfahren, die zu Beheimatung führen: Nachbarschaft, Familie, Beruf, Freunde. Dann sind die sogenannten Nachteile – ob auf dem Lande oder in der Stadt – plötzlich ein Stück vom Wohlbefinden.

Daher: Traditionen nur auf dem Lande zu suchen, das Ländliche mit dem Ursprünglichen gleichzusetzen, wäre ein Irrtum. Im Gegenteil: Musikalisch-poetische Traditionen und Brauchtum finden im städtischen Bereich einen anderen, oftmals sogar leichter einen Humus. Jede Facette davon findet in der Anonymität der Stadt, im städtischen Nebeneinander von Kunst, Kultur und Kommerz manchmal mehr Chancen und Entfaltungsfreiheit als im ländlichen Bereich. Dort geht ja keine Neigung und Sonderlichkeit durch, ohne besprochen, vorverurteilt und aufgezeigt zu werden, ohne unter Kontrolle des Kollektivs zu stehen. Und doch: Stadt- und Landmenschen haben annähernd dieselben Sehnsüchte die zumal zu Überzeichnungen neigen. Mitunter ist eine Verstädterung ländlicher Siedlungen zu bemerken, ebenso aber auch kann man – so wie in Grazer Innenstadtlokalen – durchaus Landluft atmen, weststeirische Mundart genießen mitsamt den kräftigen Gesängen zu vorgerückter Stunde.

Mit dem Phänomen „Ländlichen Kulturformen in der Stadt“ beschäftigte sich ein Symposion des Steirischen Volksliedwerkes, welches im Mai 1993 in Graz abgehalten wurde. Die vielfältigen und interessanten Aufsätze: Beispiele ländlicher Instrumentalmusik in der Stadt (Slowenien); Von der Sehnsucht nach ländlicher Idylle (Wien); Regionale Volksmusikaktivitäten im städtischen Bereich (Slowakei); Die Begegnungen von Stadt und Land bei den Volkssängern (München) u.v.a.m. wurden als Band Nr. 2 in der Reihe „Sätze und Gegensätze“ beim Steirischen Volksliedwerk veröffentlicht und sind dort erhältlich.


Bayerische Sänger- und Musikantenzeitung 45/4, 2002; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.