Volksmusik als Gepflogenheit – das Ende der Volksmusikpflege?

Es mögen manche den Titel als provokant empfinden, doch meine ich allen Ernstes, dass man sich und seine Arbeit von Zeit zu Zeit in Frage stellen sollte.

Das Ende der Volksmusikpflege würde einerseits keine Massenarbeitslosigkeit ausbrechen lassen und andererseits auch nicht das Ende der Volksmusik bedeuten – und das ist der springende Punkt. Wir sollten uns nicht als Hüter und nicht als Richter einer Kultur aufspielen, deren Vielfalt und Schönheit geradezu dazu verleitet, sie für unsere Eitelkeit einzuspannen.

Demut ist ein brauchbare Eigenschaft

Wer einigermaßen die Geschichte der Volksmusikpflege kennt, weiß, für was alles die Volksmusik schon herhalten musste. Es ist nie die Volksfrömmigkeit, es ist nie Volksmedizin, nicht die Volksdichtung und nicht die Volksweisheit, für die wir Pflegemaßnahmen ergreifen und sie von Zeit zur Zeit zur Schau stellen. Es ist immer wieder die Volksmusik, die Volkstracht, das Volkslied, die klingend und bunt sind und deren Gepflogenheit uns offensichtlich nicht genügt. Wir gefallen uns in der Rolle des Traditionsträgers, zeigen uns, filmen uns und betrachten uns mit einer gewissen Beruhigung im Spiegel:

Das sind wir, unverwechselbar wir

Diese, unsere ganz besondere Neigung macht es eben schwierig, jenes Bild von Volkskultur zu entwerfen, das es uns wieder ermöglicht, die Antwort darauf zu finden, wie sinnvoll denn eine Volksmusikpflege heute ist. Das klingende und bunte Element in unserem Leben bedarf einer Einbettung in eine lebenswerte Welt. Die anderen Teile von Volkskultur sind hier gefragt. Die Kultur des Umgangs in unseren Familien, des Umgangs mit den alten Menschen, des Umgangs mit unseren Toten, die Kultur der Tischsitten, die Kultur der Gastfreundschaft und Nachbarschaft. Nur weil sich diese Kultur nicht bunt und klangvoll zeigt, bleibt uns der ganzheitliche Blick verwehrt. Von dieser mangelnden Einbettung in ein Lebensumfeld sind wir heute schon betroffen, viele Volksmusikgruppen sind heute nur mehr die Interpreten historischer Aufzeichnungen, Weltreisende in Sachen Volksmusik, Produzenten von Volksmusikkonzerten. Viele Volksmusikgruppen werden ihre eigenen Veranstalter, sind die Erbauer einer eigenen Volksmusikbühne. In Ermangelung von Verwurzelung und in Unkenntnis der Einsetzbarkeit von Musik im Ritual, der Einsetzbarkeit von Musik als Lebensmittel.

Musik und Poesie im Lebensumfeld einfügen

Nun kann man natürlich auch alle bisherigen Entwicklungsgänge zum Status quo erklären und zum Ausgangspunkt von Überlegungen machen, wie denn die Volksmusikpflege in der heutigen Situation reagieren solle. Ich meine mit dem Status quo jene bunte Palette von Volksmusik als reines Accessoire, Volksmusik als Freizeitprogramm, als Kabarettprogramm u.s.w. Es geht nicht an, hier Vorschriften zu kreieren. Es würde auch dem Gedanken der Vielfalt widersprechen, wenn es nicht extreme Zuneigungen, extreme Formen der Pflege, der vereinsmäßigen Einengung auch geben dürfte. Einzig und allein einer Institution, die sich wie das Volksliedwerk auch auf Forschung beruft, ist ein Weg vorgezeichnet, der einer Rechtfertigung standhalten müsste. Während andere Organisationen sich damit begnügen können, Volkskultur zur Schau zu stellen, Wettbewerbe zu veranstalten etc., bleibt es den Volksliedwerken vorbehalten, an das Lebensumfeld von Musik und Poesie zu denken, Veranstaltungskultur einzumahnen, Klangbilder an Funktionen zu binden.

Spannung und Entspannung

Was ist es eigentlich, was uns veranlasst zu glauben, dass es ohne uns nicht geht? Lassen wir das Anliegen Volksmusik beiseite, ebenso unsere Intention, Identität zu stiften, ebenso unsere musikalische Liebhaberei. Was bleibt, ist der Wunsch nach Geborgenheit, Übereinstimmung, Harmonie, nach einem Gleichklang, der eine ähnliche Spannung bewirkt wie wenn man den gleichen Unbilden ausgesetzt ist, unter gleichen Bedingungen lebt, in Abhängigkeit zueinander steht. Harmonie – die musikalische – ist nur ein Mittel, um Wohlbefinden auszulösen. Es gibt auch andere Mittel wie Landschaft, Freundschaft etc., die ähnliche positive Gefühle in uns wachrufen. Warum aber müssen Gefühle zugleich auch plakativ sein? Wenn wir unsere eigene Heimat aufgeplustert auf Fremdenverkehrsplakaten betrachten, haben wir ein komisches Gefühl dabei. Vertrautes, bislang unseren Augen in vielfältigen Nuancen Bekanntes verkommt tausendfach gedruckt zu Kitsch. Musikalische brauchtümliche Beispiele der Überzeichnung von Harmonie gibt es zur Genüge. Was passiert hier?

Es genügt uns nicht mehr, in Stimmung zu sein, wir lassen uns dabei filmen. Es genügt nicht mehr, ein schönes Bauernhaus zu haben, wir lassen es aus der Luft fotografieren und blicken im Haus auf unser Haus. Es genügt uns nicht mehr, einen schweren Unfall gehabt zu haben, wir möchten unseren Abtransport auch noch im Fernsehen nacherleben.

Die Wiederholung von der Wiederholung

Dieser Hang zur Selbstbetrachtung ist durchaus legitim und auch mit ein Grund, warum manchmal Volkskultur nicht gelebt, sondern wahrlich immer wieder wiederholt wird, dass vieles auf der Bühne und in den Medien so lange verbraucht wird, bis wir unser eigenes Spiegelbild nicht mehr sehen können.

Allerdings: Wir dürfen nicht anheimfallen, Veröffentlichung und Darstellung immer als das Gegenteil von Gepflogenheit zu sehen. Sicherlich gibt es auch hier ein durchaus akzeptables Zusammenspiel zwischen Notwendigkeit und dem Gestaltungs- und Darstellungswillen. Musik verändert sich aber sehr rasch vom eigentlichen Tun zur Pflichtübung, wenn sie nur mehr präsentiert und gesendet wird.

Raus aus dem „Im eigenen Saft baden“

Wenn wir uns an Volksmusikfreunde wenden, brauchen wir dazu keine Visionen, auch keine Wissenschaftlichkeit. Allerdings: Für dieses „Im eigenen Saft baden“ dürften wir auch keine öffentlichen Gelder beanspruchen. Unsere Zielgruppe sind – alle –, weil wir alle als Sängerinnen und Sänger einst auf die Welt gekommen sind und nicht einzusehen ist, dass wir nun nicht mehr dazu gehören. Um alle zu erreichen, müssen wir allerdings auch verschiedene Sprachen sprechen, neue Ideen verwirklichen.


Vortrag anlässlich der Jahreshauptversammlung des Salzburger Volksliedwerkes, Salzburg, 5/ 1997; Sätze und Gegensätze, Band 10/ Graz, 1999; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.