Von Haus zu Haus – Lieder der Neujahr- und Lichtmeßgeiger

Schon von weitem ist ihr Gelächter zu hören. Scherzend stapfen die Gestalten den Hang hinauf.

Vom Glühmost erhitzt und erheitert reimen sie im Gehen ein weiteres Gstanzl für den Besitzer des über ihnen liegenden Gehöfts. Der Karrer, vulgo Hinterleitner, ist ein weitum bekannter Landwirt und Holzhändler. Ein Strich noch über die Geige, ob die Stimmung die klirrende Kälte überstanden hat. Und schon klingt es fröhlich aus den Instrumenten, der Posaunist öffnet mit dem rechten Ellenbogen die Haustür, und das Vorhaus ist erfüllt von einer in diesen ruhig-nachweihnachtlichen Tagen auffallenden Fröhlichkeit. Die Melodie wird fortgespielt, bis sich die Hausleut’ versammelt haben. Die Mutter raunt dem Harmoniespieler ins Ohr: „Mein Gott, da Mali wird’s load sein – sie is gråd erst furt“.

Dort der Wiener Musikvereinssaal, hier die gute Stube

Der letzte Ton ist verklungen. In dieser kleinen Pause bis zum Anfang des Neujahrliedes, welches die Musikanten köpfehebend und bedächtig anstimmen, vernimmt man aus dem Nebenraum eineinhalb Takte von Johann Strauß’ Frühlingsstimmenwalzer op. 410, gespielt beim Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker und „live“ übertragen über Television aus dem Wiener Musikvereinssaal. Hier aber, in der guten Stube, schmilzt der Schnee von den Bergschuhen der Musikanten, während sie, die Ausgelassenheit ablegend und die Philharmoniker übertönend, in mehrstimmigem Klang ihre Botschaft überbringen: „Wir bringen Euch heut mit Freuden dår – wir wünschen Euch a glücklich’s Jåhr.“ Und alle sind dabei: Der Vater, die Mutter, die beiden Söhne mit einem Freund aus der Nachbarschaft und der Nachzügler Florian, der für einen Augenblick seinen Gameboy beiseitegelegt hat. Die Musikanten legen immer wieder einmal ein Zwischenspiel ein, und die Gstanzln werden fortan lustiger.

Den Neujahrswunsch persönlich vorbei gebracht…

Es werden die EU-Politiker und örtliche Vorkommnisse „auf die Schaufel genommen“. Jetzt wenden sich alle dem Hausherrn zu und singen den erst am Weg verfassten Reim: „Die Holzpreise, die san viel z’nieda, da Karrer måcht trotzdem sein’ Flieda (1) …“ Die letzte Strophe aber enthält den Wunsch: „Jå Fried und Freid und a långes Leben, dås soll Euch Gott vom Himmel gebn …“ Darauf folgt ein Walzer.

Frau Mutter juckt es in den Beinen, doch nimmt sie Abstand von einem Tanzerl, weil vor ein paar Monaten ein Trauerfall das Haus überschattet hat. Die Musikanten setzen die Instrumente ab und machen ihre Runde. Sie wünschen mit einem Handschlag „A guats neichs Jåhr“ und werden dann aufgefordert, ein bissel niederzusitzen. Später verlassen sie gestärkt dieses Haus, nachdem sie fast eine Stunde Gelegenheit hatten, Neuigkeiten auszutauschen, sich über die politische und wirtschaftliche Lage zu unterhalten, und vor allem: nachdem sie ein paar Lieder und Jodler gemeinsam mit den Leuten gesungen haben.

Wie zu sehen ist, geht es bei der Ausübung überlieferter Bräuche oftmals um die Begegnung ausserhalb des Alltäglichen. Das hier geschilderte Neujahrsingen zählt, wie auch das Lichtmeß- und Sternsingen, zu den „Ansingebräuchen“. Deren Geschichte lässt sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen; hier dürften sie ihren Ausgang genommen haben. (2)

Nach wie vor beliebt: Die Neujahr- und Lichtmeßgeiger

Welche Veränderungen bis zur Jetztzeit auch immer vermerkt wurden, bis hin zur Tatsache, dass die Ansingebräuche auch immer wieder eine Möglichkeit boten, sich in Notzeiten ein Zubrot zu verdienen, so hat die Form des Von-Haus-zu-Haus-Gehens und des Ansingens der Nachbarn nichts an Faszination eingebüßt. Heute vermerken wir eine zunehmende Aktivität der Neujahr- und Lichtmeßgeiger – wobei sich dieser Name nicht auf die Instrumentierung beziehen muss. Auch Blasmusikgruppen gehen „Neujahrgeigen“. In den letzten Jahren ist das Interesse an der Ausübung dieses Brauches wieder angestiegen. Das beweisen auch die Anfragen an das Steirische Volksliedarchiv nach diesbezüglichen Liedern. Zudem konnten weitere Lieder aufgefunden und ins Archiv eingebracht werden.

Zwei Gedanken wollen wir diesem Liederblatt mitgeben:

Die heutigen medialen Möglichkeiten sind vielfach dafür verantwortlich, dass es für viele Menschen an Reiz verloren hat, überall „live dabei sein“ zu können, weil es – wie die obige Erzählung mitteilt – auch ein anderes „live dabei sein“ gibt. Wir bemerken ein großes Bedürfnis nach Unmittelbarkeit, wobei die Unwiederbringlichkeit solcher Augenblicke dem Erlebnis einen besonderen Wert einhaucht. Volksmusik ist heute durch den Bildungsweg erlernbar, sie ist salonfähig geworden, hat die Bühne und die Medien erobert. Musik ist vielfach zum Selbstzweck geworden. Von der Lebendigkeit einer Musikgattung ist – so kann man durchaus kritisch anmerken – nur mehr Musik übriggeblieben. Die Ansingebräuche mahnen uns, mehr von uns selbst zu geben als nur Musik. Virtuosität ist beim Neujahrgeigen zwar nicht hinderlich, jedoch nicht erforderlich, weil hier das Erwandern der Grußadresse, der gesprochene Wunsch, die Ernsthaftigkeit des gesungenen Anliegens, verpackt in eine immer wiederkehrende, allgemein bekannte Weise, alle Sinne beanspruchen. Volksmusik hat hier eine Funktion zu erfüllen, die weit über die Verwirklichung des Musikanten und die Interpretation eines musikalischen Werkes hinausgeht.

Diese kleine Sammlung beinhaltet nur einen Teil der uns bekannten Neujahr- und Lichtmeßlieder. Ausgespart wurde auch jene ältere Typus kirchlicher Neujahrgesänge, die nicht beim Ansingebrauch, sondern im liturgischen Geschehen ihren Platz hatten.

Anmerkungen:
(1)  Ugs. für Geld
(2)  Vgl. Leopold Kretzenbacher, Lichtmeß-Singen in Steiermark. In: Das deutsche Volkslied 50, 1949, Seite 9 ff.


Vorwort für Steirisches Liederblatt, 15/ 1996; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.