Was bedeutet Überlieferung?

„Aus der Überlieferung“. Allzu gerne verwenden wir diesen Quellennachweis und kaschieren damit Unwissenheit und mangelndes Interesse an der tatsächlichen Herkunft mancher Melodien.

Die Wortwahl klingt aber durchaus nach etwas Besonderem, nach einem exklusiven Vorgang für Auserwählte. Nun ist Unkenntnis und eine Flucht in die Erklärung „Aus der Überlieferung“ nichts Verwerfliches. Im Gegenteil: Volksmusik erhält durch die alleinige Beurteilung nach Brauchbarkeit besondere Dimension. Die Herkunft der Melodien ist, wie auch anderes theoretisches Detailwissen, kein nennenswertes Kriterium. Schon eher haben Eindrücke des Lebens eine tiefe Beziehung zu den Melodien. Die Ordnungsprinzipien unserer organisierten Welt nehmen auf solche Tatsachen kaum Rücksicht.

Das Eindringen der Musik in die Erinnerung

Nach wie vor findet nämlich die Überlieferung als besondere Praxis der Aneignung bzw. der unbewussten Übernahme von Kenntnissen in der gesetzlichen Regelung innerhalb des Urheberrechts keine Berücksichtigung. Da geht es immer um Werke, deren Komponisten oder Bearbeiter, die Verlagsausgabe oder deren Aufführung. Nicht aber um das Eindringen der Musik in die menschliche Erinnerung, die Speicherung über Jahre, die unbewusste Veränderung bei der Wiedergabe, die Anlässe des Abrufens solcher Kenntnisse und um das gefilterte, verformte Produkt der Wiedergabe.

Bedeutungsvoll ist der Begriff der Überlieferung auch für Menschen, die sich der Erhaltung alten Kulturgutes verschrieben haben. So ist für die Volksmusikpflege der Begriff „Überlieferung“ gleichsam auch ein Marken­zeichen. „Im Volk entstanden“ und von Generation zu Generation weitergegeben gilt in diesem Kreise als ungleich wertvoller als jede noch so beliebte Melodie eines Kompo­nisten. Allerdings bringt quellenkundliche Aufklärungsarbeit so manche Vorstellung von überlieferter, also vermeintlich „echter Volks­musik“ ins Wanken. Beispiele aus der Instru­mentalmusik und Vokalmusik gibt es zur Genüge. Nach eingehendem Studium vieler überlieferter Volksmusikstücke kann man vor den Schulmeistern und Blasmusik-Kompo­nisten nur: „Hut ab“ sagen. Vieles aus ihrer Feder wird heute als „Überlieferte Volksmu­sik“ gespielt und gesungen. Soviel zum Mythos „Überlieferung“.

Begrifflichkeiten und die Ungenauigkeit

Unabhängig davon, welche Wertigkeit nun dem Begriff zukommt, wird der gesamte Volksmusikschatz heute als überliefert – ob nun mündlich oder schriftlich – bezeichnet. Wir operieren allzu gerne mit solchen Aller­weltsbegriffen und könnten genauso gut die Formel „aus der Tradition“ einsetzen. Übri­gens: Warum soll der Überlieferungsvorgang nur die Volksmusik betreffen? Ist nicht gerade das Gegenteil der Fall, dass nämlich dieser Vorgang der Übernahme von Musik ins Gedächtnis der Schmelztiegel ist, in dem sich alle mögliche Musik sammelt?

Wie könnte aber ein so schönes Wort im Zusammenhang mit dem vielfachen Be­mühen um die Volksmusik eine tiefe Bedeutung erfahren und uns Hilfe sein? Überlieferung bedeutet auf alle Fälle ein Mehr an Information und Eindruck, sie ist der Begriff für das Erkennen der Zusammen­hänge, für den Blick über die Melodie hin­aus. Die direkte Übernahme von Musik aus dem Leben, vor allem Musik im Zusammen­hang mit brauchtümlichen Handlungen, eröffnet eine ganz andere Dimension. Kein Bildungssystem wird dieses „Lernen im Leben“ ersetzen können; schlechte Beispiele gibt es genug.

Verkommen zum Accessoire

Zunehmend haben wir es heute ja mit Freizeitmusik zu tun; Volksmusik ist zum Accessoire verkommen. Ton-Produk­tionen, Konzertgeschehen und mediale Verbreitung sind vordergründige Volksmusik­vermittler. Die Pfleger kämpfen um mehr Sendezeiten, und es glückt ihnen so manche „echte“ Volksmusikveranstaltung. Volks­musik ist solchermaßen gedruckt, gepresst, gesendet und zelebriert so eindrucksreduziert wie ein Foto vom kalten Buffet. Es ist also nicht gleichgültig, ob wir im Volks­musik­boom nur zum Interpreten werden, die erlernte Technik zu Musik verarbeiten oder ob wir von Musik-beseelt eine Funktion erfül­len und sie zum Lebensmittel machen.

Wenn Menschen Musikrepertoire in sich tragen…

Gefordert ist also mehr Orientierung am musikalischen Gebrauchsgut der Bevölkerung. Wir wissen heute, dass viel mehr Menschen Musikrepertoire in sich tragen als wir annehmen und dass sich nur wenige in einschlägigen Musikinstitutionen (Chor, Musikkapelle …) einfinden. Der Kontakt zu Gebrauchsmusikanten oder Sängern ist eigentlich überall möglich und lehrt uns ein­drucksvoll, was Musik den Menschen bedeu­ten kann. Für sie ist Musik nicht die üppige Kost – eher sparsam und immer anlassgebun­den wird damit umgegangen. Sie unterschei­den nicht zwischen „echt“ und „unecht“, sondern speichern musikalische Eindrücke unvoreingenommen. Hier ist Überlieferung das musikalische Tagebuch eines Menschen. Es wird mit der Handschrift jedes einzelnen geschrieben und ist vom Vermögen jedes einzelnen, sich musikalische und poetische Werke anzueignen, beeinflusst. Der Eindruck des Augenblicks ist federführend. Hier zählt nicht der Wert der Musik und der gewählten Worte, sondern alleine, wie sehr Musik und Sprache durch den erlebten Augenblick für unbestimmte Zeit zum Besitz werden.

Die Faszination Überlieferung

Inso­fern wird dem Überlieferten zu Recht eine besondere Kraft zugeschrieben. Wer einiger­maßen Einblick in die Musikbranche unserer Tage hat, muss davon beeindruckt sein, wie sehr die Überlieferung alle Reglements und Mechanismen unserer Zeit links liegen lässt. Was sind schon die heutigen kurzlebigen Highlights gegen jene Lieder, die im Gebrauch allgemeine Verbreitung gefunden haben und so vielen Menschen eine beson­dere Lebensqualität über Generationen hin­weg bedeuten?

Nun mag man mir vielleicht entgegnen, dass dieser von mir gelobte und herbeigesehnte Idealzustand heute nicht mehr zurückzuholen sei. Gegenwärtige gute Beispiele seien die Allerletzten …, dann sei es vorbei damit. Kommt denn niemand auf die Idee, dass wir selbst es sind, die auf dieses bedeu­tende „Mehr“ (durch die Überlieferung) längst gerne verzich­ten, die Lebensschule unbeachtet verlassen, um uns in Bildungssysteme einzuordnen? Wir registrieren mit Freude die Salonfähigkeit der Volksmusik und glauben, dass wir uns einen Anteil am Markt sichern müssen. Es ist ja geradezu lächerlich, ein heute noch vielerorts gebräuchliches Neujahrlied im Chorsatz auf CD herauszubringen und damit eine pflegerische Absicht zu verbinden. Wer mit diesem Brauch einigermaßen vertraut ist und dieses Wünschen als alljährliche nach­barschaftli­che Geste erlebt hat, wird leicht erkennen, dass das Wort „Ton-Träger“ eine durchaus zutreffende Beschränkung beinhaltet.

Eine Veredelung: Lebensmittel Volksmusik

Mit all den Errungenschaften, mit Verän­derungen unserer Zeit haben wir zu leben, und der Versuch, neue Techniken, Veranstal­tungsformen, Medien und Bildungsein­richtungen für unsere Sache zu nützen, ist durchaus legitim. Die Volksmusikpfleger sind aber aufgefordert, statt dem Genussmittel mehr dem „Lebensmittel Volksmusik“ Augen­merk zu schenken. „Aus der Überlieferung“ muss nicht leere Formel sein, kann aber Veredelung des volksmusikalischen Erbes bedeuten.


„G’sungen und g’spielt“ Innsbruck, 7/ 1995; Sätze und Gegensätze, Band 10/ 1999; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.