Lieder haben lernen: Ein Seminar mit Nachhaltigkeit

Der Titel „Lieder haben lernen“ – ich gebe es zu – verwirrt vorerst einmal. Treffender aber kann man unser Anliegen nicht formulieren. Noch mehr: Jede herkömmliche Bezeichnung für so einen Singkurs würde dem eigentlichen Kursinhalt nicht gerecht werden.

Was bedeutet also „Lieder haben lernen“? Alles, was mit Musik zu tun hat, wird von uns fast ausschließlich mit dem musikalischen Bildungsweg in Verbindung gebracht. Daher stammt auch der oftmals gehörte Satz: „Ich soll singen? Ich kenn’ ja nicht einmal die Noten!“ Als ob das Singen von Noten ausgehen würde, Musikausbildung hat eben tatsächlich viel mit den Hilfsmitteln, mit Werkzeugen zu tun, die uns „Musikmachen“ ermöglichen. Die Melodien bringen wir mit Noten in Verbindung, den Klang mit der Satzgestaltung. Es sind vielfach vorgedruckte Informationen – Liederbücher und Notenblätter –, die zur Interpretation führen.

Musikerlebnis ohne Notenbild

Singen als Lebens- und Festgestaltung hat aber eine Dimension, die über das Notenbild hinausgeht. Mir scheint, dass eine Entlastung von Musiktheorie den Sinn für ein größeres Erlebnisfeld öffnen würde, das Fehlen musiktheoretischen Hintergrundes einen besonderen Zugang oder Umgang, eben ein anderes „Erleben“ ermöglicht. Musik – und in unserem Falle Lieder – haben für uns lebenslange Bedeutung, wenn wir sie erlebt und nicht nur erlernt, das heißt „über Hilfsmittel erfasst“ haben.

Die Sinnes- und Eindrucksvielfalt speichern hat einen Mehrwert

Das Vanillekipferl-Rezept, einst auf einem Pergamentpapierrest von Großmutter handschriftlich überliefert, ist ein Erinnerungsstück, dessen Verwendung einfach den Kochbuch-Zweck erfüllt. Es ist zunächst nur eine Aufzählung von Zutaten. Was für eine Sinnes- und Eindrucksvielfalt kann diesem Vanillekipferl aber noch weit darüber hinaus anhaften? Es sind Großmutters Hände, die mit dem Teig umzugehen verstehen, es sind ihre Anweisungen und Anordnungen im duftgeschwängerten Küchenraum, der Tonfall ihrer Stimme, den wir heute noch im Ohr haben, es ist ihre Gestik, vielleicht die Handbewegung, mit der sie eine Haarsträhne aus dem Gesicht wischt. Es ist aber auch ihre Mühe, die uns als Eindruck hinter blieben ist, nämlich die Mühe um die Versorgung der Familie nebst dem sorgfältigen Einlagern der Köstlichkeiten – und zuletzt auch Großmutters Großzügigkeit beim Bewirten der Gäste, gepaart mit der sparsamen Einteilung der Reserven. Auch hier kann ein Rezept den Erlebnisgehalt nicht ersetzen. Mehr noch: Die schriftliche Notiz beinhaltet eben nur „Zutaten“.

Musik als Spannungs- und Stimmungsbild

Lieder können nicht nur im 2/4- oder 3/4-Takt, in Dur- oder Moll-Tonarten, für Frauen- oder Männerstimmen geschrieben sein. Sie können auch das Klangbild einer erlebten Zeitspanne bewahren. Sie können uns zurückversetzen in ein längst vergessenes Spannungs- oder Stimmungsbild. Lieder haben ein bewegtes Eigenleben in uns und mit uns. Sie haben einen geheimnisvollen Ursprung und sind allen möglichen Menschen schon begegnet. Hauptsächlich solchen, die sie wiederum vergessen haben, oder auch solchen, die den Sinn nicht verstanden oder das Lied ganz anders interpretiert, vielleicht nur benützt haben. Hie und da auch einem Aufzeichner, der mit spitzer Feder seinen Eindruck zu Papier gebracht und diesen doch nur auf Musik reduziert hat. Was ist passiert?

Die Einbettung in eine Lebensphilosophie

Lieder verlieren ihr Kleid, in das sie eingebettet sind, wenn wir aus ihnen ausschließlich Musik machen. Das ist der Grund, warum wir lernen müssen, sie zu haben. Sie mit dem Mantel des Lebens zu umgeben, sie schlechthin als Lebensmittel bei uns zu tragen und sie niemals unbeseelt weiterzugeben. Dieses Anliegen könnte man wohl auch auf viele andere Lebensbereiche übertragen. Überall begegnen uns angehäufte Kenntnisse, selten allerdings in gleichem Maße deren Einbettung in eine Lebensphilosophie. Musik ist leider bestens geeignet, nach Reinheit und Perfektion gemessen zu werden oder gar nach den Schlagzeilen, die sie gerade macht. Dazu gehört der Ziehharmonika-spielende Rockmusiker ebenso wie jener Club, der durch ein Konzert mit tausend Saugeigenspielern ins Buch der Rekorde kommen möchte.

Selberklingen als Akt des sich Fortpflanzens

Kurz und gut: Was auch immer produziert wird und welcher Hit auch immer landet: Liedbesitz dagegen bedeutet dreifaches Kapital: Es ist nicht nur die Freude an der klingenden Sprache, die wir für uns verbuchen. Zu allererst ist Liedbesitz Teil einer Lebensgeschichte und Verlebendigung vieler Begegnungen. Und die Weitergabe und Überlieferung der Lieder ist auch ein Akt des sich Fortpflanzens, ein Entladen der gespeicherten Eindrücke als Folge des Besitzergreifens von einem geistigen Kapital, das uns bereits ohne grundbücherliche Eintragung gehört. „Lieder haben lernen“ ist daher der Versuch, dem Instinktmäßigen mehr Wertschätzung beizumessen, der Musik den großen Mantel Erlebnis umzuhängen und damit die Chance wahrzunehmen, verschüttetes musikalisches Tun auszugraben oder es gar nicht verschütten zu lassen.


Eröffnungsrede zum gleichnamigen Seminar, Leibnitz, 12/ 1993; Sätze und Gegensätze, Band 3/ 1994; Sätze und Gegensätze, Band 10/ 1999; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.