Volksmusik der Steirer

Die Volksmusikforschung kennt, was die ländliche Tanz­musik betrifft, eine Fülle von eindrucksvollen Ausprä­gungen, die Melodie, die Musizier- und Spielpraxis bet­reffend.

In der Steiermark ist vor allem die Geige als Tanzmusikinstrument belegt. Ein besonders deutlicher Zeuge einer starken Geigenmusiktradition war Cyprian Händler (geboren 1826) aus Rottenmann, der mit seiner im Steirischen Volksliedarchiv dokumentierten Samm­lung steirischer Tänze, der steirischen „Nationalmusik“, nämlich dem „Steirer“, ein Denkmal setzte. Händler hinterließ durch seine Korrespondenz mit Professor Dr. Josef Pommer, dem Mentor der österreichischen Volksmusik-Forschung, auch eine Fülle an Erzählungen vom Leben eines Musikanten in der Obersteiermark.

Das Beispiel aus der Weststeiermark

Noch vor rund 20 Jahren war die Geigenmusik fast von allen Tanzböden verdrängt. Es waren die Blasmusiken, die an Beliebtheit zugenommen haben. Auch die zuneh­mende Größe der Veranstaltungen verdrängte die Gei­genmusik. Trotzdem gibt es bis heute eine ununterbro­chene Überlieferung, zum Beispiel durch die weststeiri­sche Tanzkapelle Ferdi­nand Zwanzger, deren beharrli­che Tätigkeit und dienende Rolle in einer begrenzt regionalen Umgebung bis zum heutigen Tag wirkt. Meh­rere junge Tanzmusikkapellen eifern diesem Vorbild nach und nehmen die Tradition des volkstümlichen Gei­genspiels wieder auf. Die Bezeichnung „Tanzgeiger“ wurde in den siebziger Jahren wieder für „Musik am Tanzbo­den“ verwendet, weil Volksmusik zusehends als „Vor­führmusik“ verwendet wurde und auch deshalb, weil sich der Ausseer Mu­siker German ­Roit­t­­ner (1811–1870) ebenso genannt hatte.

Tanzgeiger als Bezeichnung für eine spezielle Zuwendung

Das Besondere der alten wie auch der neuen Tanzgeiger liegt zweifelsohne am Überlieferungsprozess. Zuhören und Nachspielen ohne Noten, das Nacheifern eines Vor­bildes, das Einbringen der eigenen Musikalität bewirken ein klingendes Endergebnis im traditionellen Stil. In der Weststeiermark hat sich eine von der Wienermusik beeinflusste Melo­dienwelt erhalten, die sich dem ländlichen Leben ange­passt und eine besondere Ausformung erfahren hat. Das starke Vorbild der Brüder Schrammel, ihre Wirkungszeit waren die Jahre zwischen 1884 und 1891, ist hier herauszuhören, ebenso die Marschmusik-Komposi­tionen, die durch die Doppelfunktion vieler Musikanten in Ortskapelle und Tanzmusikbesetzung fast automa­tisch einfließen konnten.

Ein von vielen Seiten beeinflusstes Repertoire

Die Schlager der zwanziger Jahre und der Jahrzehnte danach sind ebenso zu hören, wie die populären Musiknummern der bekannten „Oberkrainer­-Kapelle“, die in den sechziger Jahren einen völlig neuen Melodietypus und Musizierstil in Umlauf brachten.

Durch die Anwendung der Geige in der Tanzmusik hat sich bei den Geigern eine eigene Technik entwickelt, sie ist hörbar und macht im klingenden Endprodukt den eigentlichen Reiz dieser Musik aus. Besonders auffallend sind das oftmalige neue Ansetzen des Bogens zum Abstrich und das Spielen in Applikaturen sowie die verschliffene Spielweise, verziert mit vielen Trillern. Die typische Besetzung besteht aus zwei Geigen (1. und 2. Stimme), einer Bratsche (Nachschlag-Begleitung), einer Harmonika (Melodie und Begleitung) und einem Bass. Oftmals ist auch das Hackbrett als Begleitinstrument eingesetzt.

Das Neue und das Alte nebeneinander

Der Steirer gilt als sehr gesellig. Jener schnellen Ent­wicklung der volkstümlichen Schlagerwelt, dem raschen Wechsel zu immer neuen populären Klängen ist er genauso ergeben, so wie die Menschen überall den starken Wechsel ihrer Lebensbedingungen gewöhnt sind. Nach wie vor hat die alte Tanzgeiger-Tradition vor allem als regionale Gebrauchsmusik ihre Erfolge. Hochzeiten und Ballveranstaltungen im kleinen Rahmen sind das Ar­beitsfeld des Geigenmusikers.

Gebrauchsliedgut und Aufführungsvolkslied

Volkslieder sind musikalische Umgangssprache. Dieses klingende Phänomen ist ohne Einbezug der Überliefe­rungs-Methode und des Gebrauchswertes in unsere Überlegungen nicht erklärbar. Heute stehen vor allem musikalisch wirkende „Formationen“ (Chorgemein­schaften, Singgruppen) im Vordergrund. Sie wähnen sich als „Träger des Volksliedes“, wenn auch das klin­gende Endprodukt oftmals nicht dem ursprünglichen Gebrauchs-Volkslied entspricht. Die Volksliedforschung vermutet, dass eine weitaus größere Anzahl von Men­schen „Liedbesitz“ hat, als allgemein angenommen wird. Repertoireforschung – einerseits bei singenden Menschen und andererseits bei Chorgemeinschaften – ­hat einen deutlichen Unterschied im verwendeten Lied­gut ergeben.

Melodien als Lebensmittel

Wer also von „Volksliedsingen in der Stei­ermark“ spricht, müsste „Liedbesitz der Menschen“ sagen, die Anwendung musikalischer Fähigkeiten, ein täglicher Umgang mit Melodien. Dieser „Umgang“ lebt auch heute noch! Als Lied­repertoire dienen durchwegs alte Alm-, Liebes- und Wildschützenlieder sowie Lieder für die Geselligkeit und Jodler. Oftmals handelt es sich bei den Texten um längst nicht mehr aktuelle Dinge. Gesungen werden diese Lieder aber wegen ihrer schö­nen und verbreiteten Liedweise. Es gibt auch viele einfache, um nicht zu sagen „banale“ Melodien. Sie werden gesungen, weil der Text anspricht, veränder­bar ist und ergänzt werden kann.

Singen als Bindeglied zwischen den Generationen

„Altes“ steht hier für Reife und Bewährung, aber auch für Gewohnheit. Neues entsteht spontan – oft nur für eben diesen Augenblick brauchbar. Viele sogenannte „Dort-wo-Lieder“ (heimat­lich-patriotische Lieder) haben eine ausgesprochen re­gional wirkende Hymnus-Funktion, Kitsch werden sie erst im Augenblick des bewussten Transports und Heraus­schälens aus dem im Lied angesprochenen Bereich. Ja ­– gemeinsame Lieder haben, ist eine Form von Lebensqua­lität. Pflegevereinigungen und Liederbücher werden hier vergeblich ihr Wirkungsfeld suchen. Es sind die Rituale der Begegnung, die Singen ermöglichen können oder es unterbinden.

Überschäumende Lebensfreue

Zu den singenden Personen: Es stechen oftmals soge­nannte „Ansinger“ hervor, die auf Grund ihrer ausge­prägten Musikalität, ihres großen Liedbesitzes oder aber auf Grund ihrer überschäumenden Lebensfreude „singerig“ sind und die Initiative ergreifen. Ein solcher „Impulsgeber“ genügt meist, und schon singt jemand mit, übernimmt automatisch die zweite Stimme, eine dritte Person (seltener) die dritte Stimme, dafür eher den Bass. Es gibt Gegenden in der Steiermark, in denen fast ausschließlich zweistimmig gesungen wird. Eine Aus­nahme bilden dann die sogenannten Dreier- oder Vierer­jodler. Übrigens: Jedes Volkslied ist zweistimmig gesun­gen schon vollwertige Musik. Dieses gesellige Singen ist in der Steiermark derart stark verbreitet, dass kaum eine Hochzeit im Lande ohne „Singen der Menschen“ abläuft.

Gastlichkeit paart sich mit Musikalität

Und überhaupt: Ort des Geschehens ist meist das Gast­haus, der Ort geselliger Begegnungen. Das Repertoire der Sänger umfasst nicht selten bis an die 200 Lieder und Jodler. Beim Singen stehen sie gerne eng beisam­men, stecken die Köpfe zusammen und singen sich gegenseitig an.

Da es bei diesem „Volksgesang“ eben keine fixen Gruppierungen gibt, ist der eigentliche Ver­such, „Einen gemeinsam zu tun …“ (gemeint ist, einen Jodler zu singen), gelebtes Experiment und fertiges musi­kalisches Produkt zugleich. Der Prozess des sich Anglei­chens, in die Variante des Mitsängers einzufinden, erfor­dert großes musikalisches Können und Routine, oftmals auch ein Glaserl Wein. Die Technik dieses Singens verstößt gegen jede Regel der Stimmbildung, wie sie heute an Musikschulen unterrichtet wird.

Ein Kraftakt an Artikulation und Tongebung

Das Ergebnis ist ein überaus rauhes, kräftiges Singen, eine auf jeden einzelnen Sänger oder einzelne Sängerin zugeschnittene persönliche Klangfarbe, vermischt mit der mundartli­chen Eigenheit. Das starke homogene Klangbild entsteht durch überzeugte Artikulation des Textes, dem bei die­sen Liedern eine besondere Bedeutung zukommt. Melo­die und Text sind als eine Einheit zu sehen.

Dies alles im Gegensatz zur Chorstimme, deren Unterordnung in die Formation gewünscht wird. Zur Stimmaufteilung: Hier singen Menschen, die vorerst einmal das Lied besitzen, zugleich aber auch jede Stimme singen können und niemals nur eine Rolle (Sopran, Tenor …) eingelernt haben. Ob nun drei Frauen oder drei Männer singen oder in gemischter Form ge­sungen wird: die Lieder werden den Umständen ent­sprechend ohne Verwendung einer Stimmgabel den Stimmen angepasst.

Epilog

Wie Mutterwitz und Redegewandtheit ist Anwendung einer instrumentalen und vokalen Gebrauchsmusik eine Erscheinung ohne Anspruch auf Popularität. Im Gegen­satz zu anderen Erscheinungen der Volkskultur (zum Beispiel Volksmedizin) sind jedoch gerade musikalische Formen wie Lied, Tanz und Musik zur Darstellung und Präsentation bestens geeignet. Mit diesem Veröffentli­chen und Herausheben leben wir heute – in einer Zeit des schnellen Transportes von Bild und Ton. Wir können und sollen uns dieser Entwicklung nicht verschließen.

Das Be­wusstsein aber, dass es neben reiner Aufführungskultur eine nicht greifbare, nur dem Zufall überlassene, über­lieferbare musikalische Eigeninitiative gibt, sollte uns optimistisch stimmen und auch davon abhalten, Einmali­ges – im besten Sinn des Wortes – wiederholbar aufbe­reiten zu müssen. Es gibt noch viele unerfassbare Berei­che im Volksleben, deren Besonderheit und wertvolle Funktion mit dem ersten Schritt auf die Bühne dieser Welt zum Ausstellungsobjekt verkümmern würde.


Programmheft „Steirische Künstler in Zug, Schweiz, 1989; Österreich-Journal, Nr. 6/ 1997 Sätze und Gegensätze, Band 10, Graz, 1999 mit anderer Quelle; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.