Volksmusik, wo bist du?

„Unser Dorf soll leben“, heißt eigentlich: Unse­re Mitmenschen sollen möglichst viele ge­meinsame Nenner finden, zueinander finden. Darum bedarf es einer gemeinsamen Sprache, einer Verständigungsmöglichkeit.

Was die Volksmusik für unser Dorf zustande bringen könnte

Wenn Sorgen und Nöte zum Anliegen vieler Mitmenschen werden, verbreitet diese Gemeinsam­keit Wohlbefinden. Auch Geselligkeit ist ei­ne gemeinsame Sprache, und unser Brauch­tum ist Ausdruck einer gewachsenen Über­einstimmung. Die volksmusikalische Tradi­tion, beseelt vom Gleichklang mehrerer Ge­nerationen, war ursprünglich der Pulsschlag dörflicher Kultur und könnte es heute noch sein.

Viele Menschen lassen sich bloß etwas vormachen

Man begnügt sich heute mit der Bestellung von Platzkarten beim Heimatabend, Konzert oder Liederabend und mit dem Programmie­ren eines Musikautomaten. Oder – mit dem Sammeln jener Mitmenschen in Verbänden und Vereinen, die entweder Sänger, Fuß­ballspieler, Bienenzüchter oder Volkstänzer sind. So bilden sich Spezialgruppen, die für unser Kulturprogramm „herangezogen“ ­werden. In ihnen spielt sich das ab, was nach außen hin zur Richtschnur gemacht wird, die oftmals zu hoch gespannt ist. Diese Elite ist für die Kulturmacher eine griffige Sache und noch dazu leicht überblickbar: Sie hat einen offiziellen Namen, eine Adresse und auch eine Kontonummer – die etablierte Kultur! Unser Dorf kann so nicht leben, es kann einfach nicht pulsieren, wenn sich Kulturar­beit in der Auslese der Könner und in der Förderung von Spezialinteressen erschöpft.

Viele wollen eigentlich auch mitmachen …

Auf der Strecke bleibt das Bedürfnis jener Menschen, die singen, tanzen und auch Bienen züchten wollen. Sie wollen keinem Verein beitreten, wollen keine Fach­zeitschrift lesen, wollen die Bienenzucht nicht wissenschaftlich betreiben, schon gar nicht 100 Volkstänze „drauf haben“ und mit ihren Liedern und Volksweisen nicht berühmt werden. Sie alle – und sie gehören der Mehrheit an – wollen auch dabei sein.

Volksmusik, der musikalische Dialekt …

Was die Volksmusik betrifft, lebt diese vom „Auch-Singen“, vom „Auch-Musizieren“. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass unsere musikalische Kultur am Vorhandensein von pflegenden und aufführenden Gruppierungen zu messen ist. Unsere Volksmusik ist der musikalische Dialekt des Landvolkes. Dialekt ist die Sprache des Umgangs, der Gewohnheit und des Gebrauches. Dieses Produkt einer ständigen Entwicklung aus dem Vor- und Nachmachen heraus ist na­türlich nicht in eine Norm zu pressen und deshalb in einer Welt des Zuordnens und Normierens vielen nicht verständlich. Ein Einheits-Folklore-Abklatsch ist dafür ebenso wenig ein Ersatz wie das sterile Pro­dukt pflegerischer Bewahrungsversuche. Bei allem Respekt vor letztgenanntem Kreis, der an sich der Sache „Volksmusik“ mit Haut und Haaren verschrieben ist, muss dies ein­mal gesagt sein. Regionalbezogener musikali­scher Dialekt lebt nicht von musikalisch sauberer Wiedergabe, mag der Publikumserfolg noch sosehr ein anderes Bild entstehen lassen.

Von konzertreifer Volksmusik …

Wer „Steirische Tänze“ konzertreif wieder­gibt, wer Jodler und Weisen im Chorsatz aufführt, benützt zwar Melodien und Texte aus dem Volksmund, hat sie aber somit aus dem unmittelbaren Bezugsfeld genommen und einer anderen Gattung zugeordnet. Dem traditionellen Singen und Musizieren ist da­mit nicht gedient, es sei denn, diese Musik wird damit für den privaten Gebrauch be­nützbar, wird zur Gebrauchsmusik, die nicht unbedingt den gesamten Chor oder die ganze Musikgruppe benötigt, um aufgeführt werden zu können. Mozarts „Kleine Nachtmu­sik“ kann zwar mit Zither und Hackbrett einstudiert werden. Das Produkt ist aber nicht mehr Mozarts Nachtmusik, auch kann von einem Beleben der Kammermusik nicht die Rede sein. Unsere Volksmusik wird stän­dig für andere Aufgaben eingesetzt, aus Un­wissenheit und fehlendem Feingefühl. Leider aber immer mit der festen Überzeugung, die­se damit zu retten und zu fördern.

Eine musikalische Erlebniswelt öffnen…

Volksmusik ist – und das muss man vorerst einmal wissen – eine Musikgattung und kei­nesfalls die niederste Stufe aller musi­ka­li­schen Äußerungen. Ihr wichtigstes Merkmal ist die mündliche Übermittelbarkeit und das damit entstehende Klima für die Ausformung eines Regional- und Personalstils. Wer Volksmusik ernst nimmt und diese großarti­ge Kleinkunst mitsamt ihrem personellen und regionalen Eigenleben erhalten möchte, soll dort anknüpfen, wo alte, erfahrene Sän­ger und Musikanten lebendige Zeugen dar­stellen. Ein Vergleich: die vorbildliche Hausfrau verwendet zwar ihr Kochbuch, lässt aber den eigenen Geschmacksinn walten und hat großes Glück, wenn sie auf die Er­fahrung der Großmutter zurückgreifen kann. Und von diesem Abschauen und Nachmachen lebt auch unsere Volksmusik. Noch haben wir gute Voraussetzungen, denn die einmalige Tradition des Singens und Musi­zierens in der Steiermark ist noch nicht unterbrochen.

Der Nährboden ermöglicht auch musikalische Begegnungen

Die vom Steirischen Volks­liedarchiv initiierte „Feldforschung“ bringt uns täglich Beweise lebendiger Singtradition aus der mündlichen Überlieferung der Vor­fahren. Das Rezept für eine solche funktio­nierende Überlieferung, für ein musikalisch ­lebendiges Dorfleben heißt: Begegnungsfel­der schaffen, für Könner und Lehrlinge. Es muss wieder einen Dialog geben! Auf der Suche nach Begegnungsmöglichkeiten und Veranstaltungsformen, die wieder Nährboden für unsere musikalische Kultur und somit auch für ein intaktes Dorfleben sein könnten, entstand der…

Sänger- und Musikantenstammtisch

– die hausgemachte Unterhaltung. Es waren Sänger und Musikanten, die damit begonnen haben, der reinen Bühnen-Vor­trags-Volksmusik den Rücken zu kehren, um wiederum ein Glied in der Kette der Überlieferung zu werden. An sogenannten Musikantentreffen, einer Parade im Bühnenrampenlicht, sind sie nicht mehr interessiert. Es liegt ihnen mehr an der Be­gegnung, die ja im Titel versprochen wird. Es fehlte nämlich an Begegnungsmöglichkeiten mit guten Vorbildern, an einem fruchtbaren Kontakt. Der Musikantenstammtisch, bereits in vielen Orten der Steiermark veran­kert, gibt Gelegenheit, im regionalen Bereich Könner und Möchtegerne (im besten Sinne des Wortes) zueinander zu bringen – das Zu­hören und Nachahmen zu ermöglichen.

Vom Zuhörer zum Mitwirkenden

Das Publikum? Hier ist die beste Gelegenheit, mit dabei zu sein. Nicht in der 14. Reihe, Platz 39, sondern an 1. Stelle – dem Musikanten und Sänger über die Schulter schauend. Ob da nicht auch das Bedürfnis entsteht, vom Zuhörer zum Mitwirkenden zu werden? Und wenn dies gelingt, gehört noch etwas dazu: Wir müssen wieder lernen, das halbfer­tige Produkt zu akzeptieren. Spontanes Zu­sammenwirken ist kein Vortragspro­zess, sondern vor allem ein Lernprozess. Ein solches „Musikalisch-sich-nähern“ kann mit all seinen Mängeln beglückend sein. Sterile Volksmusik kann dagegen unmenschlich wirken.

Volksmusik – ein Teil vom Dorfgeschehen

Die Erkenntnis, dass das Wirtshaus die Hochschule der österreichischen Volksmusik sei, stammt vom Musikwissenschaftler Prof. Dr. Franz Eibner. Daraus ein Gesetz zu machen, „Volksmusik gehört ins Wirtshaus“, wäre genauso falsch wie Bestrebungen, für volksmusikalische Darbietungen immer die besten und festlich­sten Räumlichkeiten haben zu müssen. Volksmusik – und das haben die Musikan­ten – Stammtische seit ihrem Bestehen gezeigt – ­ist ein Teil eines geselligen Rahmens, den viele Menschen heute suchen. Dass dabei die Gastlichkeit eine große Rolle spielt, ist wohl selbstverständlich. Das Bedürfnis, sich musikalisch zu äußern oder musikalischen Äuße­rungen beizuwohnen, ist gepaart mit dem gesellschaftlichen Ereignis, mit dem Wunsch, sich tanzend zu bewegen, mit dem Gefühl, auch mit lukullischen Genüssen versorgt zu sein.

Es geht um ein gemeinsames Repertoire

Unser Dorf braucht keine Tanzklubs, sondern Gelegenheit miteinander zu tanzen; braucht keine Speisehäuser, sondern Stätten der Gastlichkeit; braucht keinen Ombuds­mann, sondern das Gespräch miteinander und bräuchte eben neben dem bestehenden Chor und neben Volksmusikgruppen und Blasmusikverband ein gemeinsames musika­lisches Repertoire, um es im täglichen Zu­sammensein zu gebrauchen.

Ob nun Musikantenstammtisch, Dorfabend, Heimatabend oder Landjugendfest: Wenn unser Dorf wieder Heimstätte für uns und unsere Familie sein soll, wenn dieses Glück uns vor Augen schwebt, muss etwas gesche­hen. Und das mit uns allen – nicht mit einem Teil besonders Interessierter. Unsere traditionellen Weisen sind ein Teil des wunderba­ren Klebstoffes, der fähig ist, noch so ver­schiedene Menschentypen in einer Tonart zu vereinen. Unsere Lieder und Weisen könnten es schaffen, dass sich der Briefträger, der Pfarrer, der Bürgermeister, die Jugend, der Lehrer, der Gescheiterte, der Arzt, der Mau­rer, der Landwirt, der Vertreter, die Hausfrau und der Haftentlassene trotz aller Gegensätzlichkeiten begegnen können. Nebenbei: Der Volksmusik wäre damit der größte Dienst erwiesen.


„Neues Land“ -Themenschwerpunkt „Unser Dorf soll leben“ in vier Folgen, Graz, 2-4/ 1985; Sänger- und –Musikantenzeitung, München, 7-8/ 1985; Aus der Fuhrmannsgasse, Wien, 8/ 1985; Sätze und Gegensätze, Band 10/ 1999; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.