Das erste Bild vom Paradies? Wie und wann es in mir entstanden ist, kann ich heute nicht mehr sagen. So viel ist aber sicher: Das Bild ist bis heute gleich geblieben, als Stillleben mit dem Apfelbaum, der Eva, dem Adam und der Schlange. Trotz der späteren Erkenntnis, dass es sich bei der biblischen Geschichte nur um Gleichnisse handle, blieb das abstrakte Bild in mir bestehen und ich rätsle stets, warum man sich dieses Paradies sosehr herbeisehnt.
Paradies und Paradieschen
Heute gilt der Begriff nicht nur für ein Stück Glaubensgeschichte. Das Paradies dient auch als Metapher für einen Zustand, der uns nach der Erfüllung aller unserer Wünsche blüht. Wenngleich wir instinktiv wissen, dass uns diese Üppigkeit nicht gut täte, pflegen wir allzu gerne die Ahnung davon. So quasi: Jedem sein Paradieschen. Ein endlich begreifbares Paradies bieten aber längst die Handelsketten, die uns im Blumen-, Garten-, Küchen-, Schuh-, Spielzeug- und Möbelparadies willkommen heißen. Statt Schlangen also Menschenschlangen…
Die Frage also, ob wir schon im Paradies angelangt sind, ist in Anbetracht des längst bedenklichen Wohlstandes eher zu verneinen.
Mariazell – ein Stück vom Paradies
Wer die Schritte aber ins Mariazellerland lenkt, wird sich die Frage angesichts des Reichtums an Wasser und Wald, an Wild und Bergwelt, ebenso aber auch an Brauchtum und Gesängen zu Recht stellen: Sind wir schon im Paradies?
Es ist uns durchaus bewusst, dass unsere Zeitschrift nur einen kleinen Teil der landschaftlich-kulturellen Besonderheiten des Mariazellerlandes beleuchten kann. Exemplarisch steht Ignaz Sampl, der legendäre Mariazeller Geschäftsmann und Sammler im Mittelpunkt des Hauptbeitrages. Es ist vor allem das Beziehungsgeflecht zu berühmten Volksliedforschern, die Sampls Geschichte Bedeutung geben. Die Wildbiologin Veronika Grünschachner-Berger beschreibt den besonderen Rhythmus der Gegend. Ihre Begeisterung macht Lust auf das Eintauchen in eine der schönsten Landschaften in der Mitte Österreichs. Der Historiker Peter Teibenbacher spürt im scheinbar grenzenlosen Mariazell historischen Grenzziehungen nach. Sein Beitrag erläutert speziell auch die Grenze zwischen dem Kronland Niederösterreich und dem Herzogtum Steiermark. Das Pilgern als ein ganz besonderes Angebot mit umfassenden Erlebniswert bringt uns der Tourismusfachmann Gerwald Hierzi nahe, während der Publizist Thomas Schweighofer Mariazell als die Wiege des Schisports vorstellt. Schließlich runden die Beiträge von Nikolaus Hulatsch und Peter Größbacher das Thema Mariazellerland ab. Der eine stellt die neue Mariazeller Akademie als Treffpunkt der europäischen Völker und Kulturen in den Mittelpunkt, der andere meldet sich als Kurator der evangelischen Pfarrgemeinde Mitterbach zu Wort. Er beschreibt die Geschichte der Einwanderung vieler Familien mit lutherischem Glauben ins katholische Mariazellerland.
Mariazell – eine Pilgerreise wert
Alljährlich folgen tausende Menschen auf der Suche nach Spiritualität und Lebensgenuss dem Ruf dieser unverwechselbaren Landschaft. Wer hier aber wohnt, kennt die Härten der Natur – die Abgeschiedenheit formt den Menschen. Die Wege sind beschwerlich und das Heimkommen dauert oft länger. Der Besucher aber braucht für das Mariazellerland einen anderen Puls. Wer sich nämlich zu wenig Zeit nimmt, der kommt nicht wirklich in Mariazell an. Daher: Mariazell ist auch der Eintritt in einen anderen Lebensrhythmus.
Musikanten sind in der Stadt…
Wo Rhythmus da Musik. Diese Ausgabe unserer Zeitschrift erscheint zeitgerecht zur Sänger- und Musikantenwallfahrt. Ob die Liederlichkeit des Musikantenstandes eine Symbiose zur göttlichen Aura des Gnadenortes herstellen kann, ist vorderhand mit Ja zu beantworten. Des Liedermachers „Erbarmen – Musikanten sind in der Stadt…“ (Reinhard May) ist eben kein Klagelied sondern eine Liebeserklärung an den Freisinn des Musikus. Der schlechte Ruf der Musikanten ist also Strategie und deshalb kein Makel sondern Markenzeichen. Ob der Verantwortlichkeit für melodiöse Lustbarkeiten, tänzerischer Extase und seelischer Schwebezustände sind sie dem wahren Gott nicht ferner als andere, sondern mitunter näher. Ja, eine Spur von Göttlichkeit ist auch in den Nischen der Musikantenseele versteckt, wie die Frömmigkeit auch zwischen Dachtraufe und Blitzableiter eingebettet sein kann.
Der Vierzeiler, Leitartikel Zum Titelbild und Thema, 26. Jahrgang, Nr. 3 /2006; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.