Wer jemals von den verschiedenen Klängen der Völker gehört hat, ist vorerst erstaunt, wenn er bei Auslandsreisen die Volksmusik des jeweiligen Landes erst mühsam aufspüren muss.
Noch mehr erstaunlich ist es allerdings, dass wir selbst die eigenen musikalischen Wurzeln unserer Heimat erst suchen müssen, weil sich Wurzeln ja bekanntlich nicht an der Oberfläche zeigen. Es sei denn, sie sind oberflächlich.
Musikgenuss aus der Konserve?
Dann und wann geben wir uns ja allzu schnell mit der Fertigware „Folklore“ zufrieden oder wir leben ausschließlich von Konserven, von Trägern der Töne, von Tonträgern also. Wer zusehr dem Musikkonsum und der Hitliste nachjagt, deckt allerdings die vielen schönen Facetten klingender Alltagssprache und Zeichen von Musikalität zu, ja, er entdeckt sie nicht. Wer macht sich die Mühe, regionaler Musikkultur nachzuspüren ?
Ein Kapital österreichischer Kulturgeschichte
Wir begeben uns also auf die Suche und haben schon bald herausgefunden, dass es in Österreich Volksliedarchive gibt. Sie stellen das nationale Volksliedgewissen dar und sind der Sammelpunkt für das – meist – anonyme Musikschaffen. Die Sammlungen, die zum Großteil um die Jahrhundertwende aufgebaut wurden, sind von unschätzbarem Wert und werden in den Bundesländern vom jeweiligen Volksliedwerk betreut und verwaltet. Die Absicht, die Geschichte und das Ergebnis der Sammelaufrufe und die Sammlung selbst, sind ein spannendes Kapitel österreichischer Kulturgeschichte.
Trotzdem steht dieses Geschehen im Schatten des österreichischen Musiklebens, das wie wir alle wissen, von großen Komponisten, Interpreten und berühmten Orchester-Ensembles geprägt ist. Während in Ungarn Hochkunst und Volkskunst vor allem durch den Volksliedsammler Béla Bartók eine Symbiose eingingen, wurde in Österreich der Abstand zwischen den zwei Musikgattungen geradezu gepflegt. Wen wundert es, dass weitgehend Ahnungslosigkeit herrscht, welches vielfältige musikalische Vermögen sich in Volksmusik subsumiert, wie sehr diese musikalische Tradition in der Bevölkerung verwurzelt ist?
Zeugnisse einer Musikalität abseits des Bildungsweges
Begibt man sich erst einmal auf die Suche, so eröffnet sich ein vielseitiges Spektrum. In der Grazer Herdergasse Nr. 3 befindet sich das Steirische Volksliedarchiv mit über 30.000 handschriftlichen Aufzeichnungen, Liederbüchern und Instrumentalmusik-Noten. Es ist faszinierend, den Rückblick in eine vergangene Zeit zu wagen und noch mehr, die Tonaufnahmen einer längst verklungen Zeit anzuhören. Es taucht zwar die Frage auf, ob es denn sinnvoll ist, alte Melodien und Texte zu rekonstruieren, sie in die Jetztzeit zu transferieren. Schließlich wissen wir ja, dass jede Zeit ihre Melodien und ihre besondere Poesie hat, warum nicht auch die unsere?
Die Frage ist richtig, wird aber selten mit nötigem Respekt und entsprechender Umsicht beantwortet. Ein Blick in das Aufgabengebiet des Steirischen Volksliedwerkes gibt entsprechende Antwort, den musikalischen alsauch den gesellschaftspolitischen Teil betreffend. Es ist geradezu ein Glück, dass dieses Forschungsunternehmen zugleich auch den Auftrag hat, seine Sammlung zu publizieren, Lieder und Tänze für den gegenwärtigen Gebrauch bereitzustellen und Melodien in Umlauf zu bringen. Diese Verbindung von zwei so großen Aufgaben, verpflichtet zur Umsicht.
Die anrüchige Pflege von Volksmusik
Freilich trägt dieser Zusammenschluss von Forschung und Pflege so manche Kritik ein, denn es bedarf eines wertfreien Umganges mit den Materialien, um die Wissenschaftlichkeit zu wahren. Volksmusik und Volkspoesie sind aber derart lustvolle Arbeitsfelder, denen man sich auch emotional nähert, den Forschungsgegenstand geradezu liebt, in Begeisterung für so viele und so vielfältige Klangfarben schwelgt. Wer mag es da verübeln, wenn der Volksliedsammler über seine amtliche Rolle als Archivar hinauswächst, selbst zum Träger von Musikkultur wird?
Kein Bart und schon gar nicht ehrwürdig
Schon mehrmals waren Archivbesucher verwundert, dass ich keinen langen weißen Bart trage. Offensichtlich stellt man sich einen Volksliedsammler so vor und ist dann überrascht, dass es sich beim Volksliedwerk nicht um einen Verband der altertümlichen und sangesfreudigen Greise handelt. Jener Mitarbeiterkreis, der sich heute der Volksliedsache annimmt, besteht aus relativ jungen Leuten, denn es ist Dynamik gefragt, wenn es darum geht, das Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation auszuloten. Weder das „Überbordwerfen“ alter musikalischer Formen, noch das starre Festhalten an Traditionen kann nämlich zum Erfolg führen. Ebenso aber auch nicht der Weg in die Salonfähigkeit und Exklusivität. Die Volksliedforscher beschäftigen sich heute vor allem mit den Lebensgesetzen von Volksmusik und sind daher auch Spezialisten in Fragen der Veranstaltungskultur. Volksmusik muss vor allem mit dem Leben zu tun haben, mit lebenswerten Umständen. Einer Volksmusik um deren Rettung willen, droht das Ablaufdatum.
Kann Archiv auch Leben bedeuten?
Ein Archiv als Beweis der Lebendigkeit? Wie kann man aus alten Notenschriften und vergilbten Liederbüchern auf den Gebrauch schließen? Wie vertragen sich die meterlangen Regale, die Buchrücken, Tonbandspulen und Notenmappen mit dem Bild von singenden Menschen, von Fest und Feier mit Sang und Klang? Wenn den Verantwortlichen keineswegs Angst und bang ist um die Volksmusik, dann vordringlich aus einem Überblick heraus, aus einer durchaus auch für andere erlebbaren Erfahrung. Die Steirer verfügen über eine Fülle lebendiger Zeugnisse von Volksmusik, sie sind gesellig und tanzfreudig. Nicht die Präsenz von Musik- und Tanzgruppen ist damit gemeint, sondern das Musikgeschehen im kleinen Kreis und der Nachbarschaft. Nicht statutenmäßig festgeschriebene Traditionspflege ist gemeint, sondern der spielerische Umgang mit Musikalität und der Verschnitt zwischen dem notwendige Maß und der selbsterwählten Zugabe. Während sich die Belege dieser Gebrauchsmusik im Archiv sammeln, immer wieder neue Varianten entdeckt und publiziert werden, ist es durchaus ratsam, sich selbst auf die Suche nach Volksmusik zu begeben.
Lustvolles zwischen Hausmauer und Tenne…..
Während wir stumm verweilen und allzu gerne das Lied von der guten alten Zeit anstimmen, sind die kleinen Feste im nachbarlichen Umfeld beinahe gleich geblieben. Es rauscht zwar der Lärm einer nahen Autobahn, es tingelt dann und wann ein Handy, die Gespräche drehen sich aber um die Nöte und die Freuden der Jetztzeit. Dazwischen macht das Heugebläse jede Unterhaltung zunichte. Trotzdem sind die Rituale geblieben, etwa die Nachbarschaftshilfe, denn noch vor dem nahen Gewitter ist das Heu einzubringen. Da wird gelacht und gescherzt und beherzt geschwitzt, mit vereinten Kräften wird der Wagen beladen. Später aber, unter dem Dachfirst stehen sie zusammen, die Bauern und deren Helfer, die Sieger vor dem Gewitter. Da wird Most nachgeschenkt und dem tosenden Treiben zugeschaut. Der Wolkenbruch verhilft zu einer kleinen Schicksalsgemeinschaft. Man ist verurteilt, eine Zeit gemeinsam im Schutze des Stadls zu verbleiben. Ein Tisch wird gebracht, Gläser werden gefüllt und die Speckjause aufgeschnitten. Die Rede ist vom Lois, der beim letzten Mal nicht heimgefunden hat und von der Huber Mali, die das vierte Kind erwartet. Wirklichkeit und Märchen liegen eng beieinander, Anteilnahme und Schalk ebenso. Die kleine Welt der Nachbarschaft gibt sich ein Stelldichein und der Unwetterstimmung vergnüglich hin. Als nun der Jungbauer das Lied „ Schau schau wias regnan tuat“ anstimmt, setzt sogar der alte Lippbauer sein Glas ab und fügt dem vielstimmigen und lustvollen Tun seine Stimme hinzu. Und als dem Schlatzer Rudl eine Schnitte Wurst unter den Tisch fällt, hat die Hauskatze dies sofort bemerkt. Die Lieder werden immer fröhlicher und es entsteht beinahe ein Wettstreit, wer welche Strophen kann und wem noch ein Lied einfällt, noch höher und gegen das Rauschen in der Dachrinne ankämpfend. Köstlich auch, wie sich die Männer, Frauen und Kinder die Rollen verteilen und gleich einem Theaterstück in Streitgespräche verfallen. Wahre Meister des Wortwitzes lassen ihrer Lust an diesem Spiel freien Lauf, unterstreichen mit ausladender Gestik und das schallende Gelächter wird schon vom nächsten Lied abgelöst, dessen Inhalt nun mit dem eben Gesagten korrespondiert. Die Zeit ist stehengeblieben und als die Lieder verklungen, die Gläser in der Spülmaschine waren, hat auch der Regen nachgelassen. Im Radio trällert die Sendung „Musikanten spielts auf“ und die Gelsen beginnen wieder ihren gewohnten Tanz. Einige, haben zwischen Hauswand und Tenne bis in die späte Nacht hinein gesungen, von der Alm, der Liebe, von den Tabakrachern, von der hohen und von der Niederalm. Von Volksmusik hat niemand gesprochen…
Landhaus-Mode, Land und Leute, 3/ 1999; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.