Während wir Musik als die höchste der Künste preisen, haben wir sie leider nach und nach zur Geräuschkulisse degradiert. Sie ist verkommen zur Dauer-Untermalung des Frühstücks, zum Begleiter im Auto, im Restaurant und verfolgt uns sogar bis aufs „Häusl“.
Von der virtuosen Interpretation der alten Meister bis hin zum elektronisch gefertigten Kaufhaus-Hintergrundgeräusch – wir sagen zu allem Musik.
Weg mit den Scheuklappen
So scheint es, dass die Liebe zu Volksliedern ein aussichtsloses Unterfangen, ein krampfhaftes Festhalten an alten Traditionen ist. Es geht dabei ja nicht um Hochkunst und auch nicht um die vielstrapazierte Innovation. Volkslieder bedürfen dafür einer allgemeinen Wertschätzung, einer Be- und Gesinnung. Diese Tiefe entsteht nicht durch Scheuklappen, sondern wächst mit dem Weltbild, das so nach und nach in uns entsteht.
Das endgültige „Aus“ der Volkslieder
…sagen wir aber schon über ein Jahrhundert voraus. So alt sind die ersten Klagen über den Niedergang des Volksgesanges, über das Aussterben des Volksliedes – was immer man darunter verstehen mag. Was sind eigentlich Volkslieder? Es ist müßig, immer wieder nach Definitionen zu suchen, weil dies gerade in der Volksliedsache zu Trennungen geführt hat, die das Verbindende überschattet haben. Freilich hat die Wissenschaft ihre Definition und freilich haben die Musikpädagogen ihre eigene Vorstellung von gutem und schlechtem Liedgut.
Von Sehnsüchten und Emotionen getragen
Letztlich zählt aber, ob wir selbst von Melodien ergriffen sind, wie sehr wir Musik mit vorangegangenen Ereignissen in Verbindung bringen, wie sehr sich Melodie und Text in der eigenen Befindlichkeit wiederfinden. Es gibt eben kein gut gesungenes Schubertlied, ohne dass die Sehnsüchte und die Emotionen im Text auch im Interpreten wach werden, ohne dass sich der Interpret im wahrsten Sinne des Wortes der Worte annimmt. So gibt es auch kein „Hoch auf dem gelben Wagen“, ohne dass mir jenes Bild von Freiheit und Unbeschwertheit vorschwebt, das ich einst im jugendlichen Fahrtendrang erlebt habe.
Die Freude am scheinbar Vergänglichen
Es ist also heute nicht notwendig, zwischen dem echten Volkslied, dem volkstümlichen Lied, dem volkstümlichen Schlager und dem allgemein deutschen Liedgut zu unterscheiden. Jeder Mensch müsste selbst dafür Sorge tragen, dass er viele Melodienbegleiter im Leben hat, dass ihm Melodien von gestern das scheinbar Vergängliche musikalisch-poetisch wiederbringen. Besonders wichtig dabei: Beharrlichkeit und Entschleunigung – wie man neuerdings dazu sagt – sind bei Gott keine Schande. Unsere von Kurzlebigkeit gezeichnete Welt leidet heute an der Enge der Lebensspanne. Traditionspflege ist längst ein lebensverlängerndes Faktum. Das Bewusstsein, etwas vom Großvater mitbekommen zu haben, und die Befriedigung, am Ende des Lebens Bewährtes an die übernächste Generation weitergegeben zu haben, lässt uns nicht nur eine größere Lebensspanne erleben und erdenken, sondern macht uns zu Verantwortungsträgern der Menschheitsgeschichte.
Die Repertoireforschung ist aufschlussreich
Ich habe mich seit vielen Jahren mit Repertoireforschung auseinandergesetzt, vor allem aber mit der Frage, warum und welche Lieder in den Menschen eine so bedeutende Rolle einnehmen. Die Liederkenntnis ganz einfacher Menschen hat mich immer sehr beeindruckt. Die Liedkenntnis z. B. einer 1913 geborenen Frau reicht von der „Internationalen“ (der Vater war ein Sozialdemokrat) über die Schlager der dreißiger Jahre (die Brüder waren Musiker), die Lieder aus der nationalen Jugendbewegung bis zum Chorrepertoire eines Volksliedkreises und den Kirchenliedern. Ich kenne keinen einzigen Fall, wo Menschen ausschließlich sogenannte „echte Volkslieder“ im Kopf hatten. Immer war auch ausschlaggebend, welchen Beruf sie ausgeübt haben, welcher Gesellschaftsschichte sie angehörten und ob sie z.B. intensive Radiohörer waren. So ist etwa das Lied „Drei weiße Birken in meiner Heimat stehen“ zum Sinnbild für Heimatliebe geworden. Es ist nicht nur das Lied vieler Heimatvertriebenen, sondern auch vieler Bauerntöchter, die vom Heimathof auf einen anderen Hof, vielleicht sogar in eine andere Landschaft ziehen mussten.
Lieder sind eben ein Teil unseres Innenlebens
…sind mit den Bildern, für die sie stehen, verwoben und sollten aus diesen Bezügen auch nicht herausgeschält werden. Das passiert dann, wenn ein solches Lied auf der Bühne endet und uns das Wort Kitsch dazu einfällt. Mein Appell: Die Entscheidung zwischen Zuneigung oder Abneigung zu einem Lied muss man selber treffen! Dies hat nun mit „Abgleiten in die Beliebigkeit“ nichts, aber doch mit einer Portion Eigenverantwortung zu tun. Singen hat eben mehr mit dem Gefühlshaushalt zu tun, als mit Musik selbst.
Damit wäre aber auch zugleich klargestellt, dass Singen, Tanzen und Musizieren nicht im Wettbewerb gemessen werden können. Da gibt es Höhen und Tiefen, ganz persönliche Eindrücke, politische Gegebenheiten, die Lieder und Musik gestalten und verändern können. Die Fertigung für die Aufführung unterliegt übrigens auch anderen Gesetzen und Strategien als die Aneignung für das Leben.
Dem Weg zur Musik muss Beachtung geschenkt werden
Nach vielen Jahren der Beschäftigung mit dem Thema „Singen“ kann ich durchaus von einem vielfältigen Klangbild sprechen, das sich uns jetzt, am Ende dieses Jahrhunderts bietet. In Geselligkeit und bei brauchtümlichen Anlässen wird gerne gesungen. Diese Ereignisse sind aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sie stehen nicht im Schaufenster, und deshalb meinen viele, dass es ein solches Singen nicht gäbe. Andererseits gibt es auch so etwas wie eine schamvolle Singenthaltsamkeit. Die Gründe liegen in der zunehmenden Verfügbarkeit von Musik über Knopfdruck und im mangelnden Zutrauen, selbst Musik zu produzieren. Im Musikland Österreich wird unter Musik immer gleich die Höchstleistung verstanden und dem Weg zur Musik keine Beachtung geschenkt. Gerade aber der musikalische Versuch, die instinktmäßige Verwendung von Musik, birgt eine besondere Form von Lebensqualität. Im weitesten Sinne ist das Singen eine Form von Leibesübung. Beim Singen muss der ganze Mensch dahinterstehen, er muss sich mit Text und Melodie anreichern, um schließlich selbst erklingen zu können. Eine Aufgabe für Körper, Geist und Seele …
Jahnbote der niederösterreichischen Jugend, 3/1998; Sätze und Gegensätze, Band 10/ 1999
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