Wie kommen Kinder und Lieder zusammen?

Die Frage ist so einfach wie auch kompliziert, denn Kinder sind Kinder und Lieder sind Lieder. Aber, da kommt uns schon die Antwort über die Lippen: Kinderlieder natürlich, Kinderlieder! Eine schnelle Erklärung und doch zu einfach, denn Kinder kommen mit allen Liedern zusammen und zurecht. Wir unterschätzen oftmals die Bedeutung der für Kinder erlebbaren Klangwelt. Lange vor dem Nachsingen von Melodien wird mitgesummt und – mitgeklungen. Und da handelt es sich eher in den seltenen Fällen um Kinderlieder. Als Klangvorbild gilt nicht nur die Mutter, sondern auch der CD-Player und das Fernsehgerät. Beeindruckend ist die Exaktheit der Übernahme von Melodien durch Kleinkinder, die solcherart ihre erste Musikausbildung genießen. Für Kinder nur die Kinderliederschatulle aufzumachen, wäre geradezu so, als wenn bei der Kinderjause immer nur der Grießbrei auf den Teller käme.

Kinder sind immer auf dem Weg zum Erwachsenwerden

Nein, alle Lieder sind gleichermaßen Lieder. Erwachsenwerden beginnt mit dem Eintritt ins Leben. Weisheiten, Redensarten, – leider auch Unarten – und auch Lieder müssen mitwachsen können. Spezielle Kinderprogramme, Kindertänze und Kinderlieder mögen hingegen vorderhand attraktiv erscheinen, weil sie Stimme und Körperbeherrschung trainieren. Es handelt sich aber um Sondersituationen, würde ich sagen, der Schule, dem Kindergarten und Kinderchorensemble vorbehalten.

Die Wirklichkeit ist eine andere: Kinder helfen in der Küche und nicht in der Puppenküche, hören die Musik der Eltern und aus den Geräten, die von den Eltern eingeschaltet werden. Kinder leben in einer Erwachsenenwelt und nicht in einer Kinderwelt, auch wenn wir Erwachsenen ihnen ihre Kindheit schützen möchten. Das ist auch die Zeit der Speicherung von Familiensinn und der Rituale. Sie bleiben den Kindern als Bilder im Gedächtnis und deshalb bedarf es auch für Musik der Bilder, der Vorbilder und der schönen Augenblicke. Da geht es noch nicht um Musikerziehung, sondern um das Einbetten von Erlebnissen in Gerüche und auch in Melodien. Das ist ein Milieu für Kinder, denn sie fotografieren heute und entwickeln morgen. Wenn Kindern den Empfindungen wie Sattsein, Geborgensein, Trockensein die Klangempfindung mitgemischt wird, so ist dies die erste hausgemachte Musikerziehung, die Gemütsliegewiese, auf der alle in die Wiege gelegten Fähigkeiten gedeihen können und dazu gehören eben nicht nur die musikalischen. Jeder andere Lernprozess ist dagegen nur schlechter Ersatz.

Das gilt ja nicht nur für das Kindesalter, denn auch ein Lehrling könnte seinen Beruf nicht nur mittels Lehrbehelfe, oder durch Fernstudium erlernen. Es bedarf der Anleitung durch den Meister. Was er und vorher der eigene Vater handwerklich „tut„ und vorlebt, sogar kommentiert, ist nicht nur Abhandlung, sondern Handlung selbst – visuelles Erlebnis. Auch das farbig illustrierte Kochbuch ersetzt nicht die Erfahrung des Dabeiseins, wenn die Mutter mit Fingerspitzengefühl die feinsten Gerichte zaubert. Liedgebrauch, z. B. des Vaters gepfiffene Melodie während der Arbeit hinter dem Haus, ist die Kennung des Vaters, unverwechselbares Merkmal und somit Anlass zur Nachahmung. Musikalische Rituale sind Lebenshaltung und Auftrag, Bewährtes zu übernehmen, sie zum Lebensmittel zu machen. In der Schule wird gehegt und weiterentwickelt, im familiären Humus jedoch haben Töne die Keimzeit, so zwischen dem Türpfosten, dem Sesselfuß und dem Abfallkübel – um einmal aus der Kleinkindperspektive zu plaudern.

Das unverzichtbare musikalische Fußbad

Ja, unverzichtbar, denn Singen ist zwar nur die eine Sprache des Lebens, das Verstummen dieser Ausdrucksmöglichkeit bedeutet aber einen hohen Verlust. Demnach kann nichts unversucht bleiben, jungen Menschen Lieder zu geben und sie zum Klingen zu bringen. Liedbesitz als Erinnerung einer erleben Kinder-Klangwelt ist eine unwiederbringliche Gefühlsspeicherung, ein Sprachrohr der Seele. Jede Form der hohen Kunstmusik profitiert von diesem „musikalischen Fußbad„

Das ist nun keine Entlastungsrede für die Schule, denn sie hat heute vieles wettzumachen, was im Elternhaus mangelhaft oder gar nicht vermittelt wird. Da heißt es, einerseits den Ball wieder an die Eltern zurückgeben, ihnen bei Elternabenden wieder Lieder nach Hause mitzugeben. Andererseits heißt dies aber auch, die oben beschriebene Gemütsliegewiese in der Schule auszubreiten, wenn es darum geht, fehlende Bilder und Empfindungen der Musikerziehung an die Seite zu stellen. Was sonst wäre Ziel von Musikerziehung, wenn nicht das allmähliche Hineinwachsen in den Genuss des Lebensmittels Musik. Kinder haben ein Recht darauf – und zwar alle Kinder. Wir sollten es uns leisten, für diese breit angelegte Musikvermittlung uns alle nur erdenklich Mühe zu geben.

Oft zu hören: Im Elternhaus wird heute nicht mehr gesungen!

Das kann sein, aber umso mehr findet dieses Singen heute bei gesellschaftlichen Anlässen statt. Auf dieses Singen in Geselligkeit wird von den Musikgebildeten immer noch – weil es mehr mit Emotion als mit Ästhetik gepaart ist – mit gerümpfter Nase hinabgesehen. Das ist ein schwerer Fehler – hier wäre viel nachzuholen um dem Sinn von Musik wieder einmal näher zu kommen.

Die kleinsten Feste in Familie und Nachbarschaft sind besonders lehrreich und an ihnen sollte sich ein Teil der Musikerziehung – nämlich das Kapitel Singen – orientieren. Da bedarf es keines vierstimmigen Satzes und keiner Stimmgabel, sondern der Kenntnis der richtigen Lieder für den jeweils richtigen Augenblick. Und noch etwas: Unseren „Erwachsenenfesten„ sollten Kinder nicht ferngehalten werden. Stundenfüllende Kinderprogramme und das Abliefern der Kinder in eigens dafür reservierten „Ecken„ ist eine bequem Lösung, aber zugleich eine sehr bewusste Ausschaltung des Überlieferungsvorganges.

Falls es aber tatsächlich stimmen sollte, dass zuhause nicht mehr gesungen wird, dann wäre doch längst ein Anfang in der Schule zu machen. Ja, die Musikerziehung ins Elternhaus tragen – müsste es heute heißen. In Anlehnung an das geflügelte Wort: Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir. Dann wäre es aber auch die erste Aufgabe, nach den Eltern- und Gemeinschaftsliedern zu suchen, dem „Mutter-Kind-Turnen“ das „Mutter-Vater-Kind-Singen folgen zu lassen.


Aufsatz eventuell im Jahre 2002; 1111 steht nicht für eine Jahreszahl sondern ist das Zeichen für eine noch nicht ausformulierte Quellenangabe. Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.