Mein Leben – meine Lieder

Melodien und Bilder – daraus kann man auch Erinnerungen schmieden.

Ob es die guten oder die bösen Tage sind, sie sind verwoben mit bestimmten Melodien und mit so mancher Strophe vom Nebel und vom Fichtenwald der vor den Himmel rücket…. Es gelingt uns der Rückgriff auf Schmerzliches oder Lustvolles, deshalb lieben wir die Melodien, haben unsere persönliche Verbindung zu Rhythmus, Wort und Ton, oder wollen sie am liebsten vergessen und können es doch nicht, denn sie sind unverrückbar gespeichert. Die Ablehnung so mancher Melodien hat es aber in sich: Es gibt keine kollektive Verwerflichkeit, ebenso keine kollektive Verurteilung zu Kitsch, sagt uns die Kenntnis vieler Lebensgeschichten und das ist auch Anlass, diese Ausgabe der Verquickung des Lebens mit den Liedern zu widmen, nach der persönlichen Hitparade zu suchen. Just zur selben Zeit erscheint eine Politiker-Liedauswahl im kleinen Format und verursacht Aufregung im Blätterwald.

Wahl-Kampfliederbücher ?

Freilich sind mir Liederbücher lieber als Wahlplakate und die Annäherung an des Wählers Sehnsucht nach Harmonie ist niemanden, auch nicht einer Partei zu verübeln. Wie sehr sich aber ein paar Volkslieder inhaltlich zerpflücken, auf eine politische Partei, letztlich auch auf braunes Gedankengut beziehen lassen, zeugt von der Kompliziertheit der Materie. Was lernen wir daraus: Bodenständigkeit und Harmonie klingt von oben herab nach Etikettenschwindel, der Volkston braucht keine solchen Kundgebungen. Er ist auf der Ebene des klingenden Menschen besser aufgehoben, in einer unwahrscheinlichen Vielfalt freier Entfaltung. Es ist vor allem Selbstverantwortung im Spiel und es sind vordergründig die eigenen Launen und Zufälle, die uns Lieder auswählen lassen, ihnen eine Bedeutung einhauchen.

Vom Volkston zum heißen Eisen…

Es ist jedenfalls spannend wie unser Thema, wenn es – wie wir es uns ja auch oft wünschen – von Politikern aufgegriffen wird, zum heißen Eisen wird, zumal in Wahlkampfzeiten. Wie erquickend dagegen: Nun bietet unser Vierzeiler die breite Palette von Erinnerungen, an schöne Augenblicke und schlechte Zeiten mittels Melodien, die uns begleiten. Es ist eben nicht die schlechte Entlohnung, Not und Entbehrung, die nachhaltig in Texten und Melodien verewigt werden und in Erinnerung bleiben, sondern deren Bewältigung. Es sind die beglückenden Dinge, die als Kapital eingesammelt werden, der einstige Erwerb einer Harmonika unter sagenhaften Bedingungen, der Singsang an einem gemeinsamen Tisch, der die heutige Üppigkeit nie kennengelernt hat. Was sind das für schöne Eindrücke im Lebenslexikon! Es lässt sich Lebensqualität eben nicht mittels Sonderzuwendung aus dem Staatssäckel erreichen. Braucht das Wort Zuwendung also doch noch eine nähere Erklärung?

Schlechte und gute Lieder?

Dies ist also Absicht unserer Bemühungen: Lieder nicht in schlechte oder gute Lieder einzuteilen, denn das Leben selbst ist hier Wertmaßstab. Da mag ein Lied einmal abgelehnt, einmal geliebt werden. Wo sind die Richter die sich aufspielen? Sie werden kein Soldatenliederbuch mehr fertigen können und auch kein Schulliederbuch. Gereinigt, geglättet, entstaubt, zensuriert – wird es ein dünnes Heftl werden, Worthülsen und Beliebigkeit werden fröhliche Urständ feiern. So gesehen ist unser Thema aktueller denn je, Lieder sind ein Hort der Freiheit und der Übung mit der Freiheit. Vieles, was gesungen in Eintracht mit Melodie und Augenblick akzeptabel ist, lässt sich am runden Tisch besprochen, nur belächeln.

Verhallt: Der Ruf nach Innovation

Dieser „Vierzeiler“ ist ein Liedergedankenbuch, er fordert jeden Leser auf, die eigene Musikgeschichte zu erfragen und somit dem Lebens – Liederfluss Beachtung zu schenken. Lieder sind nicht vordergründig innovativ, sie umschlingen die Lebensgeschichte, wiederholen sie am laufenden Band. Die Formulierung des Neues, der Visionen, der Wünsche und Ängste mag dann und wann auch gelingen. Da bedarf es aber einer Vordenkerschaft. Konstruierte Gegenströme alleine sind zu wenig, sie werden als Parodie aufgenommen und abgelegt, dazwischen beklatscht. Da lob ich mir meine Lied-Erinnerungen, die alten Worte, in die ich immer wieder einen neuen Sinn legen kann. Da steigt tatsächlich der Nebel im Fichtenwald und rücket vor den Himmel, da reiten durch das Tal, da reiten vor den Berg neunhundert blanke Schimmel…


Der Vierzeiler, Leitartikel Zum Titelbild und Thema, Jahrgang 19, 3/ 1999; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.