Warum singt es sich so leicht?

Die Abgehobenheit schafft einen Ausnahmezustand…

Auf Schutz- und Almhütten hört man wieder mehr Gesang (1), weil wir uns da oben in einem Ausnahmezustand befinden.

Die überlieferten Alm- und Heimatlieder sind präsenter denn je und es ist ein gutes Zeichen, dass sich das Wohlbefinden so freizügig klingend verselbständigt. Hier ein Versuch, den Dingen auf den Grund zu gehen. Der Ausspruch

 „Auf da Ålm, då is koa Sünd“

steht offensichtlich für den be­sonderen Umgang des Menschen mit dem, was sich da oben befindet: Die Almregion, der Berg ist Zwischenstation zum Unendlichen, zum Himmlischen schlechthin. Da unten aber liegt das Alltägliche – hineingeboren, ererbt, vermehrt und letztlich vernetzt zu Abhängigkeit und Verpflichtung. Nur allzu gerne lassen wir das alles zurück und „heben ab“. Die Grenze zwischen Mühe und Lust verfließt. Kein Almweg, kein Aufstieg ist uns zu beschwerlich, das bestätigt auch der Volksmund in einem Vierzeiler, der da lautet:

Wann i auf d’ Ålma geh, tuat ma koa Fuaß net weh,
wann i zua Årbeit muaß – auweh mei Fuaß!

Jenes Gefühl aber, den Weg dort hinauf erarbeitet, sich aus dem Sumpf der Zeit heraus gewandert zu haben, angetan mit dem Bergschuh, dessen grobes Profil und kräftiger Sitz uns plötzlich zu besonderem Standvermögen verhilft, hebt uns über die nichtigen Dinge und kehrt unser Innenleben nach außen.

Butterbrot und Plumpsklo

Die spürbare Anwesenheit der Naturgewalten verkleinert uns zur Unwichtigkeit, lässt uns zusammenrücken. Geistige Wendigkeit und manuelle Geschicklichkeit gewinnen an Bedeutung, Instinkt ist wieder gefragt. Aufeinander angewiesen sein, – wie die Hilfe aus drohender Bergnot oder das Einweisen in den richtigen Pfad bis hin zum Angebot, das Butterbrot zu teilen, – verhilft zu einer besonderen Vertraulichkeit. Wir sind gesprächig, sagen „Du“ zueinander, begnügen uns mit der einfachen Hüttensuppe, warten geduldig vor dem Plumpsklo, reden und – singen auch leichter.

Warum fällt  uns also das Singen leichter?

Das Singen selbst ist die relativ späte Folge einer Reihe erfüllter Bedingungen dorthin. Die Abgehobenheit  vom Alltäglichen erleben wir wie einen Ausnahmezustand. Dieser aber ist offensichtlich die Voraussetzung für das Singen. Singen unterliegt nämlich schwierigeren, besonderen Bedingungen und ist Offenlegung der persönlichen Verfassung. Unten, in den Niederungen des Alltags, scheitert der erste Ton oftmals an der Hemmschwelle, weil wir ja in Musikalische und Unmusikalische eingeteilt und gerne zu Brummern gestempelt werden. Anders droben auf der Alm: Angesichts der rundum drohenden Unbilden mitsamt der geforderten Trittsicherheit, verkümmert die einst lästige Hemmschwelle zu einem kaum mehr wahrnehmbaren flauschigen Teppich des Wohlbefindens.

Lieder, die wie Redewendungen einfach da sind…

Das Wort „Singen“ verbinden wir zuallererst mit einem Ensemble oder einem Verein, der sich dem Gesang widmet. Wir selbst sehen uns meist in der Rolle des Konsumenten wieder. Diesen Bereich der unterhaltenden Darbietung meine ich aber nicht. Es geht mir um die vielen Lieder, die Menschen in sich tragen als Redewendungen einer musikalischen Umgangssprache. Sie werden dort oben gerne zum fulminanten Crescendo des Wiedersehens oder des Abschieds. Kaum ist ein Ton im Raum, singen die Almbesucher mit, ohne sich jemals vorher begegnet zu sein. Und: Kaum ist das Lied verklungen, ist die Lust auf ein weiteres entfacht. Es sind letztlich Sternstunden, die von Erinnerungen genährt werden und die dazu angetan sind, der Vergänglichkeit zu trotzen.

Der Stellenwert und das Verteidigen des Erholungswertes

Meine hier dargelegten Erfahrungen liegen nicht Jahrzehnte zurück, sie sind aus dem Erleben der Gegenwart gegriffen. Und solche Berichte beziehen sich nicht nur auf die einheimischen Wald- und Almbesitzer, sondern mehr noch auf die Almgeher aus den Tälern und auf Bergsteiger – woher sie auch immer kommen mögen.

Das Volkslied ist nicht ganz entschwunden und das Singen nicht ganz verstummt, schon gar nicht die Sehnsucht danach. Die ist permanent vorhanden und es bedarf nur des kleinen Anstoßes. Und es ist schön, dass neben dem Gebrauch der Radio- und Fernsehgeräte, der eigenen musikalischen Geselligkeit allzu gerne der Vorrang gegeben wird. Die Beschallung mit Musikkonserven ist ja auch ein Teil dessen, was wir gerne beim „Abheben“ unten zurücklassen. Der Alpenverein hat sich im Namen seiner zahlreichen Mitglieder für eine Regelung entschieden, die meines Erachtens den Erholungswert verteidigt und damit aber auch die Kommunikation – auch die musikalische – auf den Schutzhütten fördert. In der allgemeinen Hüttenordnung heißt es da:

„Rundfunk- und Fernsehempfang in den Aufenthalts- und Schlafräumen sowie im Hüttenbereich sind nicht gestattet. Von Besuchern mitgebrachte Rundfunk-, Fernseh- und mechanische oder elektronische Musikgeräte dürfen weder in der Hütte noch im Hüttenbereich benutzt werden.“ (2)

Ich weiß, dass diesem Gebot nicht immer Rechnung getragen wird. Zumindest kenne ich aber Situationen, wo dem gemeinsamen Singen spontan der Vorrang gegeben wird. Warum wohl? Weil das eigene musikalische Produkt den Menschen in seiner Ganzheit erfasst, es verhilft ihm als Werkzeug des Klanges und als Musikselbstversorger zur so oft angestrebten Verwirklichung.

Die musikalische Mischkulanz ist herrlich

In der Kürze dieses Beitrages kann ich nur unzureichend auf das Repertoire eingehen. Vordringlich sind es aber die Alm-, Jäger- und Wildererlieder, die sich bis in die heutigen Tage überliefert haben. Natürlich auch die regionalen Heimatlieder, die wie Hymnen „abgesungen“ werden und auch so manche Bergsteigerlieder gehören dazu. Dass bei gehobener Stimmung gerne auch Schnulzen und Schlager geträllert werden, ist ein Zeichen dafür, dass manche Hits der letzten Jahrzehnte in die mündliche Überlieferung eingegangen sind. Das ist gut so. Unser Wort- und Liederschatz verändert sich a viel schneller, als dies Wörter- und Liederbücher jemals veranschaulichen können.

Den Stellenwert sollten Sie erkennen

Vielleicht ist Ihnen dies alles nichts Neues. Neu dürfte für Sie aber sein, dass dieser musikalischen Alltagskultur von Seite der Volksmusikforschung besondere Beachtung entgegengebracht wird. Für sie gilt die Almregion auch als Wiege besonderer musikalischer Fertigkeiten. Die Bergsteigerdörfer könnten das Singen auch als besonderes Segment einer Wertehaltung herausstreichen, denn „Lieder haben“ ist immer noch ein Zeichen für hohe Lebensqualität.

Freilich deckt der Musikmarkt mit seinen Einschaltziffern und Tonträgern diese feine Linie des musikalischen Vermögens beinahe zu – während die eigentlichen  TonTräger – im besten Wortsinn – in Bergschuhen gerade das nächste Lied auf die Lippen zaubern. Das ist der Puls der musikalischen Überlieferung, so könnte man sagen und gleichzeitig postulieren: Die Almregion ist nicht nur ein beliebter Erholungsraum sondern vielmehr eine Kuranstalt für die Seele.


Der Schweizer Naturphilosoph Jean Jacques Rousseau beschrieb das, was Generationen von Bergsteigern innerlich erlebten, so: „Alle Menschen werden die Wahrnehmung machen, dass man auf hohen Bergen, wo die Luft rein und dünn ist, freier atmet und sich körperlich leichter und geistig heiterer fühlt. Und weiter: Es scheint, dass man, sobald man sich über die Wohnstätten der Menschheit erhebt, alle niederen und irdischen Gefühle zurück lässt und dass die Seele etwas von ihrer ursprünglichen Reinheit zurückerhält. Und weiter: Alle allzu lebhaften Wünsche verlieren ihre scharfe Spitze, die sie schmerzhaft macht, und lassen nur im Grunde des Herzens eine sanfte, süße Bewegung zurück.“

Lambauer Hannes: Erzherzog Johann als Bergsteiger und Natur­freund, in: Erzherzog Johann – sein Leben in den Bergen. Graz 1982, S. 4. Dem Tagebuch, das Erzherzog Johann bei seinen vielen Bergwanderungen führte, vertraute er ca. 1810 an: „Die herrliche Gegend, die Ruhe, die Einfachheit in allem, guthmüthige, aufrichtige, offene Menschen haben so etwas Anziehendes, daß es wahrlich mir nicht übel zu nehmen ist, wenn ich sie weit den Städten und vorzüglich dem hochberühmten Wien vorziehe.“

Und schließlich meinen Hilde und Willi Senft in dem Buch „Unsere Almen“ Graz 1986, S. 11 treffend: „Eine Alm, auf der das Vieh neben einigen zünftigen Almhütten – vor der großartigen Kulisse wilder Berggestalten – friedlich grast. Wie schön wäre es, könnte man dieses freundliche Bild als eines der Endstadien unserer Zivilisation.

Anmerkungen:

(1) Wer anderer Ansicht ist und meint, das Singen sei gänzlich entschwunden, der möge einfach wieder damit beginnen.

(2) Allgemeine Hüttenordnung des Alpenvereins. In: Die Alpenvereinshütten, München 1978, S. 656.


Beitrag für die Alpenvereinszeitschrift „Bergauf“ Innsbruck, 4/2018, S 50 ff; Für diesen Beitrag wurden Fragmente eines Vortrages anlässlich der Österreichischen Almwirtschaftstagung in Murau/Steiermark, September 1991 verwendet; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.