Die Stille macht erst Hunger auf Musik

Dass uns die absolute Stille zur Seltenheit geworden ist, das kann wohl niemand leugnen und uns sind vor allem diese zwei Reaktionen präsent: Wir kennen Suchende, die sich ganz bewusst eine Portion Auszeit nehmen – zum regenerieren, wie sie behaupten.Sie haben eine Möglichkeit entdeckt, um dem Getriebe zu entkommen und für alle Unbilden des Täglichen gerüstet zu sein. Andere wiederum sind ganz beunruhigt, wenn der Geräuschpegel nachlässt oder ganz verschwindet. Sie brauchen die hörbare Bestätigung des Daseins wie ein Stück Brot. Vielleicht auch deshalb, weil sie vor dem Jenseits Respekt haben. Dort soll es nämlich ganz still sein, wiewohl uns dafür keine Bestätigung vorliegt. Und so gesehen verkommt unser permanent geduldeter Lärmpegel zur krankhaften Sucht. Ohne pulsierende Tapete, die uns lebhafte Aktivität suggeriert, geht es nicht mehr. Wir haben also verlernt, die Stille zu ertragen.

Die freiwillig auserwählte klangbegleitete Gemütlichkeit

Das alles ist schon viele Male reflektiert worden. Immer wieder berichten die Medien über das Lärmproblem, es beschäftigt sich die Wissenschaft ebenso damit wie die Ärzteschaft. Es geht dabei schon längst nicht mehr um Verkehrslärm und produktionsbedingte Lärmquellen. Da vertrauen wir ja dem Fortschritt und reisen auf Flüsterasphalt, während wir in den Fabrikshallen gedämpfte Schlaghämmer einsetzen und Gehörschutz zur Pflicht erhoben wird.

Nein, wir begeben uns fernab der Arbeitswelt ganz freiwillig in die rhythmisierte klangbegleitete Gemütlichkeit. Wir urlauben all inclusiv und die Erholung beginnt mit der obligaten Dosis Reise-Begleitmusik. In der Freizeit angekommen, ist Musik im Raum wie eine Tapete an der Wand. Weil wir es so von daheim kennen, denn da schalten wir uns Musik dazu, um im Tagesrhythmus zu bleiben, um der Hektik noch den Kick zu geben. Vom hohen Puls herunterkommen? Nein, wir spielen das Hasten über Boxen bis zum bitteren Tagesende. Erschöpft ersehnen wir die Nachtruhe herbei, es pulsiert in uns nach und die aller letzten Gedanken im verdammt stillen Kopfpolster sind makaber: Was ist los, bin ich schon tot?

Lebenslust kann durchaus laut sein…

Ob dieses überzeichneten Bildes darf gerne geschmunzelt werden. Nein, ich wettere nicht prinzipiell gegen den Strom und genieße es selber, wenn der Kirchtag auch seine akustische Note zeigt, wenn das Glas Rotwein in der Kellerbar rhythmisch begleitet wird, wenn die After Show Party ihren Höhepunkt plärrt und wenn die Hochzeitsböller krachen. Alles zu seiner Zeit.

Mitunter aber ist es notwendig, die Bremse zu ziehen. Dann, wenn die dem Fortschritt geopferte Lebenswelt mit akustischem Müll angereichert wird. Tonfolgen und Nachrichten als Beilage zum allerbesten Kaffee, akustische Raumabsonderung bis in die Toilettenanlage, im Aufzug, in der Hotelsuite oder ganz tief unten in der Tiefgarage. Wo, bitte schön, sollten wir uns nach Musik sehnen, wenn sie allgegenwärtig um uns ist? Und dabei geht es noch gar nicht um die Qualität dieser Musikabsonderung, sondern nur um die Menge, um die Dosis und den Missbrauch als Hör-Dekor. Das sollten wir immer mit bedenken: Auch das allerbeste Trinkwasser kann in großer Menge tödlich sein.

Die Pause als Gestaltungsmittel

Die Bedeutung der Stille ist übrigens einer der Bausteine der Musik. Die Pausenzeichen bestimmen die Wirkung der Töne, sind also Teil jeder Komposition. Eine ganz andere Funktion hat die Pause dann im Ablauf eines Konzerts, als Halbzeit nach dem ersten Hörgenuss. Nach dem ersten Teil ist die Pause dazu ausersehen, das Gehörte nachklingen zu lassen und die Vorfreude auf den zweiten Teil zu schüren. Was im klassischen Konzertgeschehen als selbstverständlich gilt, wird an kleinen Bühnen leider nicht praktiziert. Offensichtlich überwiegt die Angst, das Publikum zu verlieren, es nicht bis zuletzt bei der Stange halten zu können. Es ins Stimmungs-Vakuum abtauchen zu lassen. Und daher schickt der Mann am Schaltpult die Beschallung durch die Boxen. Damit wird die Pause untergraben, ihr die Wirkung genommen und es ist schade um sie. Die guten Darbietungen auf der Bühne haben es verdient, einwirken und sich setzen zu dürfen, für sich stehen gelassen zu werden. Sie brauchen keine Überbrückung, denn die Pause ist die Keimzeit für den Wunsch nach der Fortsetzung.

Der Hunger nach Musik

Wie auch in anderen Bereichen, ist das Leben lebenswerter, wenn wir es zu portionieren verstehen. Wie bekömmlich ist die Rückkehr in die vier Wände nach einem ausgedehnten Urlaub. Wie gerne läuft man über die Wiese zum Nachbarn um ihn zu begrüßen. Wie köstlich ist die Wiederkunft ins Tagtägliche, dem wir vor ein paar Wochen angeekelt den Rücken gekehrt haben. Wir kennen das Zuviel und das Zuknapp und es ist wahrlich eine Kunst, immer das richtige Maß zu finden.

Wie kräftig meldet sich der Hunger, werden die Düfte über die Nase wahrgenommen, erquicken wir uns am Klang der Suppenteller, die gerade ausgeteilt werden. Das aber nur, wenn wir nicht den ganzen Vormittag dem kleinen Gusto nachgegeben haben: Da ein paar Nüsse, beim Fleischer eine Leberkäsesemmel und während der Besprechung ein paar Handvoll vom Salzgebäck. Richtig: Die enthaltsamen Stunden vor dem Essen wären eigentlich der Knüller für eine herzhafte Mahlzeit. Wie sagte schon die Großmutter: Hunger ist der beste Koch!

Und damit komme ich zurück zum Thema. Auch die Musik hat die größte Strahlkraft nach der Pause vor ihr. Ein stiller Arbeitsplatz, die ruhige Wanderung am See entlang, die nicht beschallte Ordination, das kultivierte und deshalb nicht beschallte Kaffeehaus. Das sind alles die Helfershelfer für den Hunger nach Musik. Zur Ruhe gekommen in akustisch abstinenter Zeitspanne birgt etwas in sich, was einen höheren Erlebniswert gleichkommt und die Wahrnehmung schärft.

Wegschauen, aber nicht weghören können

Neidvoll meint das Ohr zum Auge: „Du hast es gut, Du kannst auch wegsehen. Mir aber fehlt der Schließmuskel und ich bin deshalb permanent ausgeliefert – dem Geräusch, dem Gequatsche und Gedudel“.

Mit diesem Manko müssen wir also leben – wir könnten aber dennoch Strategien entwickeln. Und deshalb rate ich der Leserin und dem geneigten Leser: Werdet akustische Selbstbestimmer, wählt die Orte ohne Beschallung um zu rasten und zu essen. Spart unterwegs aber auch daheim die Dauertöne ein und lasst den Hunger nach Musik ankommen. Dann aber wählt mit Bedacht das klingende Menü und lasst es Euch am Mittelohr zergehen – und nicht vorbeigeräuschen.

Musik als Erhöhung des Daseins

Den Musikantinnen und Musikanten rate ich, sich als Stimmungsmacher mehr Zeit zu lassen. Es muss vorerst einmal alles gesagt werden, um der Lustbarkeit die klingende Krone aufzusetzen. Nicht die Musik ist es, die im Vordergrund steht, sondern die Begegnung, der Anlass, der zu allererst die gesellschaftlichen Poren öffnen muss. Das ist die Zeit der Erzählungen von Gestern und der Vorausschau auf das Morgen. Eine in vollen Zügen genossene Zusammenkunft, ob Fest, Feier oder dem Zufall überlassen, kann von der Musik auch gänzlich gestört und zerstört werden. Musik ist dann aufgesetzt und nicht abgeholt – so könnte man sagen.

Andererseits aber kann die Musik dazu beitragen, die Stunden zu veredeln, den Balsam aufzutragen, der dazu angetan ist, eine Einheit herzustellen zwischen der mitunter bittersüßen Lebenswelt und der an Poesie reichen Melodienwelt. Die richtige Dosierung musikalischer Unterhaltung ist ein Gegenspieler des Zeitmaßes, sie ist für die Dehnbarkeit der aller schönsten Stunden verantwortlich.


Beitrag in „Salzburger Volks.kultur“; 42. Jahrgang, Seite 44-46, 5/ 2018; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.