Die Reiselust, die Freundschaft und die Geigenkoffer…

(Ein literarischer Beitrag, bei dem die Wahrheit nur dann ins Hintertreffen gerät, wenn sie der Nacherzählung eine Pointe beschert.)

Die ersten Begegnungen mit Rudi gehören zu den frühen Erinnerungen meines Lebens und sie haben einen Bogen bis zum Heute gespannt. Die Unbedarftheit der jungen Jahre und die beginnende Eroberung der Welt sind Teile einer bis in kleine Einzelheiten nacherzählbaren Geschichte und sie sind bis heute präsent. Das hat wohl auch mit dem damals noch nicht verbreiteten Hang zum Festhalten zu tun – noch gehörten Film- und Fotoausrüstung nicht zum alltäglichen Equipment, denn die hier erzählte Episode spielt in den 60er Jahren, als es noch an vielem fehlte, nicht aber an der Tiefenschärfe des Augenblicks.

Die Zukunftsmusik nach dem Krieg

Alles was uns beide betrifft, begann aber mit dem erzieherischen Konzept unser beider Eltern – die wollten uns alsbald zum gemeinsamen Musizieren zu animieren. Ich war ein Land- und er ein Stadtkind – und wir hatten insgesamt 9 Geschwister. Allesamt waren wir Musikschüler weil unsere Eltern meinten, das hätte mit Herzensbildung zu tun. Trotz all der nervenden Versuche an den Instrumenten, träumten sie jeweils von einer musizierenden Familie und meinten auch, dass die den Kriegsjahren nun folgende bessere Welt eine Zukunftsmusik benötige – womit sie ja recht hatten.

Die Steirer und die Wiener

Er war – ich spreche von Rudi – mit fünf Brüdern gesegnet und ich mit zwei Schwestern und zwei Brüdern. Unsere Eltern aber (Pietschs und Härtels) kannten sich schon lange aus der Vorkriegszeit und sie waren es auch, die unsere Freundschaft begründeten, obwohl es ein weiter Weg zueinander war: Wir waren Ennstaler und die Pietschs Wiener, allerdings mit familiären Landwurzeln im steirischen Paltental.

Der Widerwille als Brückenschlag

Alljährlich aber zog es die Familie Pietsch des Sommers aufs Land, zur Verwandtschaft nach Gaishorn und damit war schon eine Brücke ins nahe Ennstal geschlagen. Der obligate Besuch bei uns und die wohlgemeint verordnete Kammermusikstunde der Kinder endeten stets wie folgt: Die Eltern vergnügten sich im Parterre mit dem damals kostbaren Bohnenkaffee und Kuchen, während wir uns im Keller gegenseitig mit der Unlust nach Musikklängen ansteckten und daher nicht dem Ideal der Wohlerzogenheit entsprachen.

Geschlossene Instrumentenkoffer – verpackte Notenpulte

Der kinderfreundliche Nachmittag war einer des Schabernacks, der Spiele und der Blödelei. Das alles im Beisein ungeöffneter Instrumentenkoffer, ohne Auf- und Abstriche und ohne die damals widerspenstigen Notenpulte jemals entfaltet zu haben. Schon bald aber war uns das alljährliche Ritual suspekt – nach heutigem Sprachgebrauch uncool – und wir begannen, andere Wege zu gehen und die Welt zu entdecken. Die Rebellion war ausgebrochen für die es eine Formel gab: Mit jedem Kilometer weg vom Elternhaus, wächst die Freude am pubertären Dasein.

Die Zeit des Autostoppens

Den notwendigen Abstand aber herzustellen, gelang damals ausschließlich mit dem Fahrrad oder mittels Autostopp und wir beide – der andere war der Rudi – entdeckten auf der Straße, den feinen Mechanismus, wie man eine uns völlig unbekannte Person dazu nötigen kann, den Bremsvorgang einzuleiten. Die Frage nach dem „Wohin“ war dann leicht zu beantworten, denn wir richteten unser Reiseziel meist nach der angebotenen Gelegenheit.

Welche Methode aber war es, die zum unmittelbaren Erfolg, dem Bremsvorgang führte, sodass uns meist das allererste Automobil mitnahm? Nein, der richtungsweisende Daumen war es nicht und auch nicht der saubere Haarschnitt und die geputzten Fingernägel, auf die unsere Mütter so viel Wert legten.

Des Rätsels Lösung war für uns selbst eine Überraschung: Gerade erst hatten wir die Kammermusikstunde verschmäht und dennoch war es die Musik, die beim Autostoppen ein prestissimo entfaltete. Das erste Mal hatten wir ja tatsächlich die Geigen dabei und – flupps – waren wir schon unterwegs, denn: So ein Musikerleben ist ein Hungerleider-Job und das erkannten die Barmherzigen an unserer schlaksigen Nachkriegsfigur.

Musiker sein – am Geigenkoffer erkennbar

Es war ein erhabenes Gefühl, ohne den Beweis antreten zu müssen als Künstler erkannt und von St. Hierhausen nach Bad Irgendwo chauffiert zu werden.

Gleichzeitig gab es viele schöne Gespräche über Musik und wir erfanden haufenweise bereits ausverkaufte Auftritte, zu denen wir gerade unterwegs wären.

Schon bald aber wurden wir mutiger und entledigten uns der Instrumente und Bögen, transportierten stattdessen Jause und Anorak im Geigenkoffer, denn die Wunderwaffe hieß schlicht und einfach Geigenkoffer und nicht Geige. Das war eine Entdeckung der 60er Jahre und noch ist nicht untersucht, ob der Generationenkonflikt und die Entzauberung des violinistischen Leistungsdrucks nicht doch ein Vorläufer der 68er Bewegung sein könnten.

Geigenkoffer zu verkaufen!

Meine Eltern hatte damals gerade das Ennstaler Musikhaus gegründet und es war einer meiner ersten geschäftlichen Erfolge, über eine Wiener Osthandelsfirma eine Ladung gebrauchte Geigenkoffer anzukaufen – es waren an die 200 Stück. Sie waren damals spottbillig zu haben, ließen sich aber – aufgewertet durch unsere Autostopp-Erfahrung – um ein Vielfaches an die Freunde verscherbeln. Sie wurden ein Symbol der neuen Mobilität und zum weit sichtbaren Freifahrschein.

Eine Heerschar von vermeintlichen Geigern war unterwegs

In der Folge bereisten scharenweise junge Menschen die Landstraßen, um die Vorteile des Musikerlebens zu genießen, ohne sich jemals mit dem Geigenspiel befasst und geplagt zu haben. Es war ein unüberschaubares Heer von Geigenkoffer-Besitzern, die nur durch die Umrisse einer vermeintlich verpackten Geige zu reisenden Musikern geworden sind. Erst viel später erfolgten unsere Initiativen zum volkstümlichen Geigenspiel, zu den fulminanten Geigentagen.

Zuerst also der Koffer, der einen zum Musiker macht, dann der Schritt in die Welt hinaus und zuletzt der tatsächliche Griff zur Geige. Nein, von einem musikpädagogischen Konzept kann nicht die Rede sein. Zuguterletzt aber steckt hinter dieser einen Geschichte – die ich für dieses Fest auserkoren habe – ein Bündel jener Eigenschaften, die Dich – lieber Rudi – erfolgreich gemacht haben.

Mit vehementer Nötigung zum Erfolg

Und damit meine ich, dass Du tausende junge Menschen mit allen Mitteln genötigt hast, Gas zu geben, um eine bessere Musik zu machen, sie nicht nur zu spielen, sondern ein Teil von ihr zu werden. Geradeso, wie Du so viele Autofahrer genötigt hast, wegen zwei leeren Geigenkoffern auf die Bremse zu steigen.

Und hier sei noch eine Episode eingefügt: Jene, die uns zu beinahe unlauteren Mitteln greifen ließ, nachdem eine ganze Reihe Autofahrer an uns vorbeigeflitzt waren: Wir holten ein Stück Kreide aus dem Geigenkoffer. Dieses Utensil war uns schon des Öfteren hilfreich, um unseren Reisewunsch mit großen Lettern auf den schwarzen Koffer zu schreiben: Wien, Innsbruck, München, Grundlsee…

Dieses Mal gaben wir uns aber als die Nachkommen des berühmten Walzerkönigs aus und schrieben auf unsere Geigenköfferchen:

 Johann Strauss/ Sohn

Schon der nächste Wagen hielt am Straßenrand, das Fenster wurde aufgekurbelt und ein freundlicher Herr lud uns zur Reise ein: „Steigts ein Buama, den Papa kenn i eh recht guat.“

Aus der fröhlichen Unbedarftheit, aus jugendlichem Übermut und Neugierde wurde schließlich Rechtschaffenheit und Zuneigung zu Deinem Forschungsfeld, wurde auch Deine Leidenschaft für das impulsive Weitergeben Deines Wissens.

Deine Vehemenz der Nötigung zum Besseren war stets ansteckend und das Tempo der Impulse atemberaubend. Dafür sei Dir gedankt und auch für so viele Jahrzehnte Deiner Zuneigung und Freundschaft!


Rede für Rudolf Pietsch anlässlich seiner Pensionierung, Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien, 2016. Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.