Die kümmerliche Menschheit

Der Weltuntergang ist wie ein Traum…

Als dann der Weltuntergang tatsächlich stattfand, waren wir dennoch überrascht, liefen ohne Krawatte vor das Haus und starrten in den Himmel. Jeden Moment müsste er stattfinden – der Untergang. Wie wird er sich anfühlen? Was werden die allerletzten Gedanken und Geistesblitze sein? Wird er schmerzlos vor sich gehen oder haben wir noch ein paar Sekunden zu leiden?Leider waren wir alle viel zu wenig informiert, also griff ich nach der Zeitung im Postfach und war zutiefst beschämt:

Die Menschheit hatte nicht einmal einen Nachruf parat, stattdessen schlagzeilte das Blatt: „Schönheitsoperationen werden teurer“. Die haben seltsame Sorgen, aber kein Wort zum Weltuntergang gefunden, dachte ich und empfand diese Ignoranz mehr als respektlos. Da lassen wir uns viel mehr als die gezählten 2012 Jahre auf diesem Trabanten herumtragen, drehen uns in seinem Rhythmus des Tags und per Nacht und ignorieren dessen Untergang – zum lange vorhergesagten Termin. Unglaublich!

An der Tragödie vorbei gewitzelt…

Ich gebe es ja zu: Wir haben wochenlang zahlreiche Witze gerissen und köstlich gelacht über den Aberglauben. Die Tagesordnung war uns wichtiger, ja mehr noch: Sie war uns heilig! Wir kauften noch eine Jahreskarte 2021 für die Verkehrsbetriebe und buchten eine Reise in den Sommerurlaub, bestellten den neuen Wagen unserer Lieblingsmarke, stritten uns noch wegen der Farbe und der Innentapete. Wir besorgten – im Unvermögen, die letzten Tage der Menschheit zu genießen – Geschenke für die Lieben, mitunter Gutscheine für feine Wäsche und schicke Schuhe, die sie nie einlösen werden können. Viele nahmen noch einen Kredit auf, mit einer Laufzeit von mehr als 25 Jahren.

In den letzten Tagen tranken wir mit Freunden Weihnachtspunsch und diskutierten über die gesundheitlichen Auswirkungen des Zucker- und Alkoholgehalts, dann über versunkene Millionen in der Mozartstadt, anstatt ernste Mienen aufzusetzen und mit Würde unseren Abgang zu besiegeln. Zuguterletzt wünschten wir ein „Frohes Fest“ anstatt ein „Schmerzloses Ende“, wir sagten „Bis bald“ anstatt „Auf nie mehr Wiedersehen“.

Ein Naturschauspiel sondergleichen…

Wumms! Pünktlich wie geplant, tauchte unsere Mutter Erde in eine der vielen Milchstraßen ein und schrammte an wildfremden Sternen vorbei, der unkontrollierten Karambolage mit einem der millionenfach umherirrenden Himmelskörper entgegen. Im entwurzelten Magnetismus und in der noch wenig konstanten Schwerelosigkeit harrte ich der Dinge und genoss die Leichtigkeit des Seins unter unserem Kirschbaum – wie nie zuvor. Gerade ging ich einem vorbei schwebenden Würstelstand aus dem Weg, als ein Feuerwehr-Einsatzwagen in etwa fünf Meter Höhe schwebend anhielt und sich – in Blaulicht gefärbt – um die Eigene Achse drehte.

Es folgten mehrere Erschütterungen, während größere und kleinere Felsbrocken ganz nahe an der Erdoberfläche vorbei rasten und sich das Universum in dieser vorerst glasklaren Nacht in seiner ganzen Pracht präsentierte. Und nun hat sich die Erde mit wildem Gebrüll an mehreren Stellen aufgetan und Eruptionen pumpten das Innerste nach außen. Täler wurden nach oben gefaltet und schroffe Felsgebilde verglühten in einem Sumpf aus Allem und Nichts. Es taten sich blubbernde Springbrunnen auf, die wieder von heran strömenden Massen verschlungen wurden.

Ehrlich: Das war ein Naturschauspiel sondergleichen, ein Bild für GEO und für Götter. Nie und nimmer werde ich das Farbenspiel vergessen, als die Feuerglut gleißend weiß bis ins gelblich Rote prachtvoll die Nacht zum Tag machte. Die Apokalypse spielte auf allen Instrumenten und erreichte ein grandioses Fortissimo mit allen klanglichen Facetten, dem Seufzen und Kreischen ähnlich, doch müsste dafür erst ein passendes Wort erfunden werden. Kein menschliches Orchester und keine Kompanie von Schlagwerkern könnte je so überzeugend rülpsen, wie es im letzten Aufbäumen unserem Globus entfuhr.

Dumpfe Schläge und prasselnde Trommelwirbel vermischten sich mit dem Heulen der heißen Orkane und dem Zischen dampfenden Wassers. Dem sprühenden Funkenregen folgte später der Aschenregen, der sich inzwischen wie ein Leichentuch über die wunde Erde legte um im nächsten Augenblick von gewaltigen Gegenströmen wieder aufgesogen zu werden.

Welche kümmerliche Rolle spielt der Mensch?

Er spielt samt seinen Hinterlassenschaften eigentlich keine Rolle. Weder die Betonwände der Staudämme, noch die stolzen Klöster und breitesten Landebahnen, weder das Häusermeer der Metropolen noch die markanten Wahrzeichen konnten dem fließenden und eruptierenden Szenario etwas entgegensetzen. Die freigewordenen Naturgewalten fraßen alles auf – ganz selten war an den Schaumkronen des Desasters etwas von Menschen geschaffenes zu sehen:

Da tauchte – einem Schiffsbug gleich – eine Kirchturmspitze auf und wieder unter, dort lugte im Wellental – wie zynisch – das Verkehrszeichen „Sackgasse“ hervor und drehte sich um die eigene Achse. Kabel und Rohre schmolzen dahin, ebenso die Eheringe, Kräne und Lokomotiven. Das Gewirr von Schienen eines Hauptbahnhofes kippte durch die wilde Nacht und Erdteile, die sich bislang im Krieg befanden, schoben sich kopulierend ineinander.

Nein: Menschliches war nicht auszunehmen, diese verschwanden im Schmelztiegel, waren nur kurze Zeit noch wie Backerbsen an der Oberfläche zu sehen und verglühten dann im flüssigen Gestein. Zuletzt musste ich mir den Pyjama mit beiden Händen halten, denn die Erdumdrehung hatte sich beinahe verdoppelt und ein Bruchstück dieser Welt samt dem Südpol flog auf und davon. Berge Seen und Städte der so losgelösten Kruste zogen wie auf einer großen Leinwand durch die Nacht und verschwanden mit einem Schmatzen in der Unendlichkeit des Universums. Ich hatte zu tun, mich auf einer verbogenen Straßenlaterne festzuhalten, um dem heißen Lavastrom zu entkommen, der sich genüsslich um unsere – mit so viel Mühe – errichteten Hochbeete legte. Rundum wogte ein zäher, stinkender Brei, aus dessen Schaumkronen Flammen züngelten. Am Horizont wechselte das Farbenspiel von Grün nach Blau und dann Orange. Alle meine Sinne waren auf dieses Schauspiel gerichtet, als es plötzlich klingelte.

Als ich die Augen aufschlug, verschwitzt und erschöpft, griff ich zu allererst zum Wecker, brachte ihn zum Schweigen. Der Kalender zeigt den 21. Dezember. Nur mehr drei Tage bis zum Weihnachtsfest und ich sollte noch so vieles…

Nein, was für eine Katastrophe…


Die Weihnachtsgrüße – an 2012 den Freundeskreis gerichtet – standen in Kontrast zur feiertäglichen Beschaulichkeit; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.