Die systematische Erinnerung: Unser Volksliedarchiv

Bei uns daheim war Schmalhans Küchenmeister – das waren die ersten zwei Jahrzehnte nach dem Krieg und ich sehe in der Rückschau keine Armut, wohl aber erinnere ich mich an das Zusammenspiel von Strategien, um Geist und Körper gleichermaßen zu versorgen. Damals war das Beeren- und Pilzesammeln kein Zeitvertreib, sondern Teil der Ernährungslogistik unserer Eltern. Der Spätsommer und der Herbst waren die einträglichsten Zeiten, wir lebten buchstäblich von der Hand in den Mund und der Überschuss landete im Rexglas. Eine ganze Generation kannte dieses System und wusste um die saisonbedingte Verfügbarkeit aller Köstlichkeiten. Die Gläser standen im Keller Parade und strahlten Sicherheit und Reichtum aus.

Brockhaus und Apfelmus

Mit dem Begriff Archivieren hat das zwar zu tun, mehr aber mit Lagerhaltung, mit „Einwintern“ – wie wir gesagt haben. Es war ein Genuss, zur Winterszeit die Kirschen aus dem Saft zu holen. Ich erinnere mich an Apfelmus und Kompotte, an eingelegte Pilze und Gurken im Kellerregal, gleichzeitig aber an den Brockhaus, dessen sechsunddreißig Bände einen Stock höher im Wohnzimmer wie Soldaten in einer Reihe standen. Da also das Wissen und dort die Leckerbissen. Mitunter kam es vor, dass die Diskussion am Mittagstisch stockte, weil wir uns nicht einigen konnten, wie denn der wahre Erfinder der Nähmaschine hieß oder wann der Suez Kanal eröffnet wurde. Vater ließ die Schwammerl am Teller und griff – wie immer um Aufklärung bemüht – in die lange Reihe des gesammelten Wissens – zum Brockhaus. Danach gab es wieder Apfelmus.

Nahrungsmittel – auch für den Kopf

Später, als ich mit der Volksliedsammlung vertraut wurde und beruflich mit Archivalien zu tun hatte, war das Bild mit den bunten Rexgläsern für längere Zeit entschwunden, denn Liederbücher und Handschriften bestimmten forthin mein Leben. Heute erkenne ich aber im Zurücklegen für den Winter und dem Archivieren für nächste Generationen, ein Naheverhältnis. Das Wort „Nahrungsmittel“ hat hier eine gemeinsame Bedeutung. Lassen wir also die Vorräte im Keller und wenden wir uns dem Archiv zu:

Die Faszination: Unser Archiv im Kopf

Ob Geschichten, Rezepte, Telefonnummern oder Lieder: Unser Speicherplatz bemüht sich redlich um das Festhalten, Früher oder später verkümmern klare Vorstellungen zu Erinnerungen und zu entfernten Ahnungen. Die Triebfeder für das Archivieren ist also unser anfälliges Gedächtnis und die Angst, es zu verlieren.

Die Beiträge dieser Ausgabe sind allesamt der großen Spanne zwischen dem Gedächtnis des Menschen und seiner Leidenschaft Sammlungen anzulegen gewidmet. Der Hauptbeitrag stellt die jüngere Geschichte des Steirischen Volksliedarchivs in den Mittelpunkt, wobei Doris Grassmugg detaillierte Informationen zum Aufbau und Inhalt zur Verfügung stellte. Michaela Brodl präsentiert den Datenverbund für österreichischen Volksliedarchive und damit die baldige Möglichkeit des weltweiten Zugriffs auf die wertvollen Sammlungen der Volksliedarchive. Günther Jontes kommt in seinem Beitrag über die ideenreichen Facetten des Aufbewahrens zum Schluss, dass der Mensch durch Sammeln und Archivieren offensichtlich Ordnung in das Chaos der Welt bringen möchte. Dietrich Schüller verführt uns in die Welt der Tonträger, deren Archivierung trotz High Technik auf Probleme stößt. Schließlich macht Johannes Schwab einen Ausflug in die Sprachwelt. Sein Beitrag handelt von der Bedeutung musikalischer Ausdrücke in der umgangssprachlichen Verwendung.

Das Archiv: Die Summe aller Ihrer Künste

Und nun ein Dank an Sie: Unsere Volksliedarchiv und all unsere Arbeit hätte ohne Ihre Mitdenkerschaft wohl nicht zum Erfolg geführt. Unser Archiv lebt von den vielfältigen Zuwendungen und lebt für die Weitergabe der gesammelten Melodien und Texte. Dazu gibt es den Liederdienst als Servicestelle und ebenso die zahlreichen Publikationen, die zur musikalischen Eigeninitiative anregen. Mit dem erfolgreichen Schulprojekt „einfach lebendig“ ist es uns zuletzt gelungen, die aller jüngste Generation zu begeistern.

Ihr stetes Interesse ist uns daher Auftrag, unsere Sammlung weiter auszubauen. Schließlich ist unser Steirisches Volksliedarchiv nichts anderes als die Summe aller Künste, die in Ihnen, liebe Leserinnen und Leser stecken.


Der Vierzeiler, Leitartikel Zum Titelbild und Thema, 27. Jahrgang, 2/ 2007; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.