Singen über Generationen – Volksmusik als Lebensmittel

Ein Plädoyer für mehr Singen

Sie haben einen Vortragenden vor sich, der kein Musikerzieher, kein Musiklehrer ist und von der Struktur des Musikschulwesens nichts versteht. Dies gleich einmal zu Beginn, um Ihnen klar zu machen, dass ich nicht der Fachmann für das Musikschulwesen bin. Zumal ist es aber hilfreich, ein und dieselbe Sache aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen, deshalb bin ich offensichtlich hierher eingeladen worden.

An den Intentionen des Musikschulwesens ist nicht zu rütteln. Es ist eine Aufgabe des Gemeinwesens, allen Menschen Zugang zur Musik zu ermöglichen. Schließlich erreicht diese Bildungsschiene nicht nur die Musiker selbst, sondern alle Menschen, die in den Genuss von Musikaufführungen kommen. An der Beständigkeit und Bedeutung der Volksmusik ist ebenso nicht zu zweifeln. Früher einmal war sie im Musikschulwesen kaum, heute ist sie allerorts präsent. Sie lebt also einerseits, weil sie heute zum Musikschulangebot gehört, sie lebt aber auch nach wie vor aus der Überlieferung, aus der Notwendigkeit der Musikversorgung, aus dem Liedergedächtnis der Menschen. Und: Sie lebt auch angestachelt durch Wettbewerbe und Festivals, ebenso durch Mechanismen, die unsere Medien in Gang setzen. Zuletzt genannt: Volksmusik besitzt inzwischen ein fettes Stück vom Tonträgermarkt.

Ein Regelwerk wider die Lebendigkeit?

Wie also sollen die Intentionen der Musikschulen einigermaßen mit der vielschichtigen Lebendigkeit von Volksmusik zusammen passen? Die Aura des unwiederbringlich wertvollen Volksgutes, das es zu erhalten gilt, ist in einer Welt des Kampfes um den nächsten Trend verblasst und deshalb kein Argument für Volksmusik. Birgt die Volksmusik einen Freiraum, in dem wir das Gestern mit dem Heute – und dem eigenen musikalischen Empfinden – verquicken können? Lässt sich aber das, was Volksmusik ausmacht, unterrichten?

Ich meine nein, wenn wir uns die Gestaltungskraft vor Augen führen, die uns in der Überlieferung begegnet. Nein, wenn wir Brauchtumsmusik und gesellige Gesänge mit dem sterilen Volksmusik-Konzertwesen vergleichen. Ich sage aber ja, wenn es um den grundsätzlichen Zugang zur Musikgattung Volksmusik geht und ich sage doppelt ja, wenn dies über das Singen geschieht. Das sage ich nicht nur als Plädoyer für die Volksmusik sondern für Musik überhaupt.

Meine heutige Wortmeldung ist also ein Plädoyer für das Singen. Ich bin mit diesem Engagement in durchaus guter Gesellschaft. Namhafte Fachleute, -Karl Adamek: Singen als Lebenshilfe; Wolfgang Bossingen: Die heilende Kraft des Singens u.s.w. – haben sich ausführlich mit diesem Thema beschäftigt.

Lassen Sie mich folgende Einteilung meines weiteren Referats vornehmen:

1) Viele Missverständnisse um die Volksmusik

2) Zur Nivellierung von Volksmusik

3) Verantwortlichkeit der Eltern/ Musikerziehung zu Hause

4) Musik als Lebensmittel

5) Angebote/ Lösungsvorschläge

1) Viele Missverständnisse um die Volksmusik

Leicht hat es die Volksmusik nicht. Da wird die Forderung gestellt, sie müsse original sein, also gleich wie früher und zugleich doch von heute und vielleicht auch noch innovativ – was immer damit gemeint ist. Während in jeder anderen Musikwelt das Alter eines Werkes keine Rolle, oder sogar eine aufwertende Rolle spielt, wird unserer Volksmusik gerne ein abschätziges „von Gestern“ zum Vorwurf gemacht. Man ist also bemüht, nicht im Gestern stehen zu bleiben. Instrumentale Volksmusik verliert dann gerne die funktionalen Formen und nimmt eine neue Gestalt an, wobei die erreichte Spieltechnik zu wirkungsvoller Virtuosität führt. Den Liedern wird eine Runderneuerung verordnet, sie sollen plötzlich nur mehr aufmüpfig, schräg und möglichst zeitkritisch sein. Nicht der Einzelfall einer solchen Entwicklung in der Volksmusik – bis hin zum Kabarett – ist hier zu verurteilen. Der hier pointiert aufgezeigte Trend ist aber im Rahmen eines solchen Fachpublikums zu diskutieren. Warum?

Tradition und Trend

Vokale Volksmusik hat nicht unbedingt dem Aktualitätsprinzip zu gehorchen, sondern folgt dem lebendigen Gedächtnis, den Gewohnheiten und Notwendigkeiten des Lebens. Sie ist das klingende Ergebnis aus einer Fülle von Erinnerungen. Sie wird – obwohl von Gestern – für den Augenblick neu interpretiert. Von Gestern gehört also zum Markenzeichen. Dabei kann es nicht nur um Tonart, Spieltechnik und Artikulation, im instrumentalen Bereich nicht nur um Effekte gehen. Die Kriterien für Volksmusik liegen vielmehr außerhalb des Musikalischen, weshalb ja das Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation immer wieder für Überraschungen sorgt. Um diese Lebendigkeit könnte man die Volksmusik eigentlich beneiden. Und man müsste sie – die Lebendigkeit – gleichzeitig beschützen: Vor Gleichmacherei und den Versuchen, sie den Gesetzen anderer Musikgattungen anzupassen. Verschulung ist ihr ebenso abträglich wie bloßes Wettbewerbsdenken.

Da gibt es nun die Volksliedwerke Österreichs. Sie nehmen eine Schlüsselstelle zwischen Musikausbildung und dem instinktmäßigem Umgang mit Musik ein. Es geht gleichermaßen um den Respekt vor bewährter Überlieferung, wie um die freie Verfügbarkeit von Melodie und Text, um das Spiel mit Form und Sinn. Dazu muss man sich mehrerer Schubladen bedienen können und eine Gesamtentwicklung im Auge behalten: Von den alten überlieferten Gesängen, den Volksliedchören, den Tanzmusik- und Familienmusikgruppen bis zum Kabarett und den ungezählten Ensembles der volkstümlichen Szene. Nicht alles ist an der öffentlichen Präsenz messbar, an den Einschaltziffern, Verkaufsergebnissen und an Gruppenauftritten. Gradmesser ist einzig und allein, wie sehr vielen Menschen der Umgang mit ihren ererbten und erdachten Melodien gelingt, wie sehr sie ihre Musikalität zum Lebensmittel machen. Dass es sich bei diesem Liedvermögen nicht nur um Volksmusik handelt, ist wohl selbstverständlich. Hier entpuppt sich der Einstieg über die Volksmusik eben nicht als Sackgasse, sondern als fruchtbares Fundament für alle andere Musik.

Die Volksliedarchive sind eine Dokumentationsstätte und sorgen nicht nur für die Aufbewahrung und Aufarbeitung tausender handschriftlicher Belege, Bücher und Tonaufnahmen, sondern auch für die Dokumentation und Publikation des gegenwärtigen Klangbildes. Es geht aber auch um Veranstaltungskultur und die Förderung der musikalischen Eigeninitiative. Ebenso um Lebensqualität, denn Volksmusik hat eine Generationen verbindende Funktion.

2) Zur Nivellierung von Volksmusik

Es ist falsch anzunehmen, dass die vermeintlich rückständige Volksmusik von den allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen nicht eingeholt wird, wenn wir sie mit Mühe im Originalton zu erhalten versuchen. Musik mag ja durchaus konservierbar sein, doch ihr Lebensumfeld ist einem steten Prozess der Erneuerung, Erfindung und Verabschiedung unterworfen. Die Interpreten – die Volksmusiker – machen da keine Ausnahme. So entwickeln z.B. die Tanzmusiker und ebenso die Wirtshaussänger eine erstaunlich lebendige Kreativität in der Sprache und im Umgang mit dem Publikum, während das Volksmusik-Konzertwesen eine bemerkenswerte Präzision an den Tag legt.

Hier dominiert gerne eine überbordende Ornamentik, die der Fingerfertigkeit mehr dient als der Musik. Das Werk – es fehlt ihm die Poesie der Melodie – entzieht sich selber dem Überlieferungsvorgang. Das Geheimnis der Überlieferung und damit Lebendigkeit von Volksmusik liegt im Gebrauch. Die Geselligkeit und die Tanzlust sind die besten Lehrmeister, das wohl kreativste Element ist dabei aber der Gesang. Für jeden Augenblick und für jede Stimmung das richtige Lied auf den Lippen zu haben, das ist eine Qualität, die bis in die kleinste Familienfeier und die Feste in der Nachbarschaft hineinspielen kann.

Was ist uns aber bislang zum Thema „Verlebendigung der Volksmusik“ eingefallen? Nicht viel! Im Gegenteil, wir haben mit Wettbewerben Reglements geschaffen, die nur dem Spiel nützen, aber der ursprünglichen Sinnlichkeit der musikalischen Sprache abträglich sind. Wir haben die Verschulung von Volksmusik vorangetrieben, um deren Stellenwert zu heben, sie gleichzeitig aber einer noch nie da gewesenen Nivellierung unterworfen. Noch nie war Volksmusik einer solchen Gefahr durch deren eigene Retter ausgesetzt. Nicht die volkstümliche Musik, nicht die Schlagerwelt und auch nicht die Volksmusik-Abstinenz des ORF treffen die Lebensgesetze der Volksmusik derart massiv am Nerv.

3) Verantwortlichkeit der Eltern Musikerziehung zu Hause

 Die erste Musikerziehung findet in der Familie statt. Gehen wir von diesem Idealfall aus und denken wir nicht gleich an den dadurch arbeitslosen Musiklehrer. Jeder weiß doch, wie sehr sich das musikalische Fußbad in der Familie auf den späteren Umgang mit Musik auswirkt. Sie haben wahrscheinlich Recht, dass diese Musikerziehung in der Familie kaum mehr oder zu wenig stattfindet. Und trotzdem sollten wir diese Idealform musikalischer Früherziehung im Blickfeld haben, ihre Wiedergeburt herbeireden. Das was Kinder mit dem Vater bei der Arbeit im Garten mitsummen, die Tanzschritte die sie mit der Mutter zwischen Herd und Kühlschrank hinlegen, weil das Radioprogramm gerade einen Rhythmus vorgibt, die Lieder, die von den Lippen der Mutter abgelesen werden, das alles sind unwiederbringliche emotionale Signale, die sich ein Leben lang fortsetzen und in Erinnerung rufen. Da sind mit Melodien nicht Notenköpfe gemeint, sondern Bilder aus der Kindheit. Manche Lieder werden zur Metapher für Sehnsucht, Glück oder Trauer. Was ist Werkkenntnis – um dieses trockene Wort heraus zu greifen – gegen Lebensmelodien, die einem als Kapital für alle Zeit mitgegeben werden? Singen mit Kindern ist ein wertvoller Beitrag zum Menschsein, ebenso aber zur musikalischen Grundschulung, ebenso aber – wie ich gerne formuliere – der Klebstoff zwischen den Generationen.

Wenn Sie mir nun antworten, ich huldige hier dem Idealfall der seltenen Spezis Familienmusik, so urteilen Sie voreilig. Als Mitarbeiter der Kulturabteilung des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung habe ich „Ansätze zur Förderung von Volksmusik“ zu initiieren, so lautet der Auftrag. Ein einfacher Weg wäre es gewesen, Volksmusik-Konzerte zu veranstalten und damit stets und immer wieder die besten Interpreten vorzuzeigen. Damit hätte ich allerdings nur die Liebhaber dieser Musik erreicht und die Popularität der Volksmusik in der Öffentlichkeit angehoben. Ein schwierigerer Weg war es aber, in einem Überangebot an konsumierbarer Musik aufzufordern, die eigene Musikbegabung erlebbar zu machen.

Während dies in der Schule und im Elternhaus noch vor 10 Jahren schwer vermittelbar war, gibt es heute ein neues Verständnis von Seite der Lehrer, ebenso aber auch von Seite der Eltern. Wie sehr das Singen jedem Instrumentalunterricht dienlich ist, habe ich schon erwähnt. Tun Sie es einfach! Wenn Sie es als Instrumentallehrer nie gelernt haben, so sollten Sie damit heute noch anfangen.

4) Musik als Lebensmittel

 Wenden wir uns noch einmal diesem Schlagwort zu. Es ist ja durchaus verständlich, dass auch im Bereich der Musik die Spitzenleistung im Vordergrund steht. Über die mehr und die weniger musikalischen Menschen, ebenso über den Begriff Begabung würde ich auch gerne mit Ihnen diskutieren. Schauen Sie sich andere Bereiche des Lebens an: Im Sport gefällt nur der Spitzensportler, während tausende Menschen Sportlichkeit an den Tag legen, ihren Lieblingssport geradezu als Lebensmittel gebrauchen.

In der kulinarischen Welt bewundern wir den Fernsehkoch, der mit seltenen Zugaben kleine Kunstwerke auf großen unförmigen Tellern platziert, während uns am Wochenende eine Hüttenwirtin in den Niederen Tauern den Hunger mit dem stillt, was sie gerade verfügbar hat. Mit Lebensmitteln!

Volksmusik erfüllt sich nicht in zelebrierten Konzertstücken, sie pulsiert im Gebrauch. Dass das Eine das Andere nicht ausschließt, ist mir sehr wohl bewusst. Eine Gewichtung in Richtung Lebensmittel wäre mein Anliegen, sie würde mit vielen kleinen Impulsen den Umgang mit Musik erleichtern und schließlich zur viel gepriesenen Lebendigkeit führen.

Meine Ausführungen werfen nun die Frage auf, welche Richtung die Volkmusik in der Musikschule nehmen soll, bzw. welche Empfehlungen ich ausspreche. Vielfach wird die Einbeziehung der Volksmusik in das Ausbildungswesen ja geradezu als Fortschritt dargestellt. Wenn man nun bedenkt, dass es eine Blütezeit der Volksmusik auch ohne Lehrstuhl und Bildungsschiene gegeben hat, dann kann Volksmusik im Musikschulunterricht ja nur bedeuten: Musiklehrer heranbilden, die von den Lebensgesetzen der Volksmusik wissen und sie nicht verletzen.

5) Angebote/ Lösungsvorschläge

 (Dabei können Ihnen die Volksliedwerke in Ihrem Bundesland helfen!)

 Mehr Singen mit Musikschüler

Lernen Sie es selber wieder, das Gstanzlsingen und lehren Sie den Musikschülern, Rituale (Geburtstag etc.) wieder kreativ zu gestalten, (Eigene Texte erfinden…). Versuchen Sie, die beliebten Lieder und Jodler Ihrer Musikschulgemeinde instrumental und vokal nachzuvollziehen.

Singen zum eigenen Instrument

Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, wird aber allzu gerne unterlassen. Nichts liegt näher, als das Singen zur Harmonika, zur Geige, zur Zither, zur Gitarre etc. (Eine Herausforderung: Eine Stimme selber singen, die zweite Stimme mit dem Instrument darüber legen)

Musikerziehung in die Familie verlegen

Laden Sie die Eltern ein mitzutun, damit sie die gleichen Lieder wie die Kinder lernen. Keine Vorspielstunde ohne gemeinsamen Gesang! Geben Sie Liedblätter für die Eltern mit, gleichen Sie Ihr Singprogramm dem Repertoire der Eltern an. Bieten Sie gemeinsame wöchentliche Singstunden in der Musikschule oder in anderen Gemeinschaftsräumen an.

Wir machen unser Liederbuch

Eine gemeinsame Aktion der Musikschüler mit den Eltern, Großeltern und Nachbarn. So entsteht ein kleines gemeinsames Repertoire – in einem Heft herausgegeben, wird es lange Zeit dem gemeinsamen Singen in der Familie und in der Musikschule dienen.

Musikanten und Sänger erleben

Laden Sie Vorbilder ein und lassen Sie diesen Eindruck auf die Musikschüler wirken. Menschen die ihre Musik frei interpretieren und ihr Leben vor anderen ausbreiten, machen Lust auf Musik im Leben.

Tanzmusik auch tanzen lernen

Nützen Sie den Instrumentalunterricht um den jungen Leuten jene Tänze zu lernen, die sie ständig spielen. Das wäre eine erste Tanzschule und eine wichtige Erkenntnis: „Meine Töne gehen in die Füße“

Lassen Sie mich zum Schluss kommen:

Wir haben stets zuallererst an die Selbstversorgung mit Musik zu denken und an das Wesen der Volksmusik: Sie soll so unterrichtet werden, damit man sie im Leben gebrauchen kann, für die heiteren Stunden des Lebens ebenso wie für besinnliche und ernste. Sie soll so unterrichtet werden, dass sie wieder in den Überlieferungsprozess übergehen kann. Sie soll so unterrichtet werden, dass das kreative Potential jedes Einzelnen auf die Musik-Spielwiese gelockt wird, auf der schon Generationen zuvor bunte Klangteppiche geknüpft haben.

Lehrer oder Weltverbesserer?

Das überaus laute und aufdringliche Medienangebot, die Musikversorgung an jedem Ort, darf uns nicht verunsichern. Die solchermaßen rund um die Uhr musikversorgten Menschen reagieren ja äußerst positiv auf die Aussicht, die hausgemachte Unterhaltung wieder selbst in die Hand nehmen zu dürfen. Die Zeit ist reif, uns über einen noch tieferen Sinn der Musikerziehung Gedanken zu machen. Wer mich also fragt, ob die Musiklehrer einfach ihre Arbeit tun sollen, oder ob sie die Welt verbessern sollen, dem antworte ich aus Überzeugung: Bitte, die Welt verbessern!


Vortrag zum 6. Europäischen Musikschulkongress, Ried im Innkreis, 10/2006; Bericht zum 6. Europäischen Musikschulkongress Land Oberösterreich, Linz, Seite 22-29, 2006; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.