Graz, Blick auf eine besondere Stadt

Das Beziehungsgeflecht zwischen Stadt-, Vorstadt- und Landleben ist ein Netzwerk der permanenten Dialoge. Das gilt auch für Graz, denn auch unsere Stadt profitiert von den vorhandenen Gegensätzen und den gegenseitig gestillten Sehnsüchten. Das Stadtleben ist also kein festgeschriebener Lebensstil, mit Stadtleben meint man das Kommen und Gehen, Festhalten und Verwerfen. Stadtleben ist also am schönsten, wenn es stets am Köcheln gehalten wird. Was wäre Graz ohne die Reibungsfläche zwischen Tradition und Moderne, ohne das Nebeneinander von ehrwürdiger Geschichte und kurzlebigen Trends, ohne die Brücke vom universitären Bildungsniveau zum simplen Hausverstand, ohne die Mischkulanz von verschiedenen Lebensentwürfen und ohne die Berührungsängste der Kultur- und Kunstszene mit den eigentümlichen steirischen Traditionen?

Wir sollten Kultur haben…

Aus dieser Erkenntnis nährte sich auch unsere Absicht, eine Ausgabe unserer Zeitschrift der Europäischen Kulturhauptstadt Graz zu widmen. Dem – wie ich vielfach höre – Vorwurf der geringen Präsenz von sogenannter Volkskultur im Festprogramm können wir nicht zustimmen. Eine solche Mengenrechnung liegt uns fern, denn die traditionellen Formen von Musik, Tanz und Poesie haben andere Lebensgesetze, sie sind eben nicht marktbezogen, sind nicht in Serie zu schalten, sie sind auch nicht auf das Jahr 2003 zu begrenzen. Sie sind vielmehr situations- und augenblicksbezogen, suchen sich Anlass und Gegenüber selbst und haben mit Befindlichkeiten und Emotionen zu tun. Eigentlich reden wir ja nicht vordergründig vom Wert der Lieder, Tänze, Trachtenstücke, sondern vom Wert der kleinen Rituale im Arbeits- und Freizeitbereich. Da pulsieren oder entstehen Traditionen, die uns Lebens- und Jahrlauf erst begreifen lassen. Ja, wir meinen uns selber als Träger, uns selber als Menschen mit Sensibilität für ein Mitnehmen des Gestern zum Heute und ein Weitertragen des Heute nach Morgen – auf 3000 zu. Das, so meinen wir heißt „Kultur haben“.

Schritte und Seitstellschritte…

Dabei sind wir wieder einmal die Anstachler und Aufrührer, denn wir verführen Sie, zu lange geordnete Schubladen zu durchforsten und wieder aufzulassen. Das tut mitunter recht gut, weil es uns selber Entscheidungen abverlangt und da und dort Nähe erzeugt, wo allzu lange Abstand gepflegt wurde. Das ist ein Plädoyer für mehr Neugierde und zugleich der Aufruf, sich im eigenen Schneckenhaus nicht zu genügen. Machen wir uns keine Illusion: Die von uns allen herbeigesehnte friedliche Welt wird nicht das Produkt großer Schaltstellen, sondern die Summe von Zuneigungen auf Du und Du sein. Und: Die Europäische Union wird ein Erfolg der kleinen Schritte. Zögern ist legitim, Seitstellschritte sind es ebenso, zappeln ist erlaubt, Hauptsache es sind Schritte.

Dynamik und Lebenslust

Viel mehr zum Thema und unseren Arbeitsinhalten finden sie im Innenteil dieser Ausgabe. Unsere Autorinnen und Autoren haben die feinen Nuancen der Kulturhauptstadt eingefangen und dafür ist hier auch der Dank abzustatten. Zuguterletzt aber: Graz besticht heuer durch ein nicht blasenfreies Kunsthaus, einen beschatteten Uhrturm und eine schwimmende Bühne in der Mur. Gar nicht zu reden von einem permanenten Programmangebot. Da können wir nicht nachstehen und präsentieren im runderneuerten Vierzeiler die bunte Spielwiese der Traditionen. Beachten Sie bitte den reichhaltigen Terminkalender, unseren Serviceteil und die Publikationsangebote. Daraus ist deutlich abzulesen: Unser Volksliedarchiv steht für Dynamik und Lebenslust. Bei dem Schwung den wir an den Tag legen, wird es Ihnen leichtfallen, ein paar Schritte des Weges mit uns zu gehen.


Der Vierzeiler, Leitartikel Zum Titelbild und Thema, 23. Jahrgang, Nr. 3, 2003; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.