Melodie und Poesie. Von singenden Menschen umgeben

Der erste Schritt in die Gaststube ist getan und mit einem Blick habe ich die Besetzung erfasst. Damit meine ich die personelle und die musikalische, denn die Sattler Ella ist ein Garant dafür, dass ein Wirtshausbesuch singend verläuft, dass die Gesänge kein Ende nehmen. Und wer lehnt dort an der Wand? Es ist der Fuchs Willi, ein Kenner jener Schlankllieder, die in keinem Liederbuch zu finden sind. Er interpretiert sie mit Bravour und bebender Stimme. Mimik und Gestik machen den schauerlichsten Text anschaulich und glaubhaft. Und gleich an der Theke steht der Schlatzer Rudl, dessen Lieblingslied „Auf der Hochstetter Ålm, waht a hantiger Wind…“ seine ganze singerische Leidenschaft zum Ausdruck bringt. Seine Wangen verfärben sich rot und seine Augen blitzen – er ist in seinem Element.

Das Leben nach dem Leichenschmaus

Ja, nach einem Leichenschmaus geht es mitunter lustig zu. Dort die Verblichenen und da die Verbliebenen, deren köstliche Unterhaltung nur deshalb zustande kommt, weil sie sich mit Haut und Haar dem Augenblick verschreiben können. „Übern Laurenziberg…“ schmettert der Rudl in die Runde, und schon hängt sich die Ella mit ihrer klaren Überstimme dazu. Zuguterletzt swingt der darauf folgende Jodler regelrecht, steigert sich dann ins Finale, bis der letzte Ton verklungen und die Runde zu den frischen Gläsern greift. Der Peter Hörmann hat inzwischen nachgeschenkt. In seinem Gasthaus am Ortsende von Deutschfeistritz sind die singenden Gäste allemal willkommen, auch wenn sie so wie wir nur kurz – auf dem Weg zum Almkirtag – vorbeischauen…

War am Anfang wirklich das Wort?

„Alles Unsinn“ hat mir ein Freund geraten. Über das Singen sollte man nicht schreiben, sondern es tun. Wie recht er hat! Wie lehrreich ist es aber auch, das Unaussprechliche auszusprechen. Zu betrachten, was eigentlich besser gefühlt werden sollte. Einmal den ganzen Wortschatz auszupacken, der gar nicht ausreicht, um diesen komplizierten Vorgang so einigermaßen zu beschreiben.

Am Anfang war zwar das Wort, aber – so nehme ich an – das war bereits mehr gesungen als gesprochen. Wir selbst neigen ja auch zum Singsang im Gespräch. Wer denkt dabei nicht an irgendeine Nachbarin, die ihr „Mei, heit bist åber wieder amål gånz fesch beinånder….“ beinahe über eine Oktave aufträgt. Ja, aufträgt! Denn mit der Sprachmelodie kann zumal eine süße Üppigkeit verbunden sein, zumindest aber eine Nuance der ganz persönlichen Kennmelodie, einer unverwechselbaren Kennmelodie. Diese Unverwechselbarkeit wäre für mich der eigentlich Grund die Stimme erklingen zu lassen. So quasi: „Meine ist anders als die andere und die Deine hab` ich schon von Weitem erkannt.“ Eine Lanze für den akustischen Fingerabdruck also! Ist das nicht eine schöne Vorstellung in Zeiten der Pincodes, die Konten, Garagen und Clubs öffnen?

Jodlersilben neben der Kaffeemaschine

„Hålt ån, ich glaub` der Leo ist då drinnen!“, schreit der Hubert auf und schon drücke ich auf die Pedale um eine Zwischenstation auf dem Weg zur Gleinalm einzulegen. Und recht hat er: Im Übelbacher Gasthof Großauer, inmitten einer unterhaltsamen Jägerrunde finden wir den Berger Leo. Schon im Vorhaus war seine Stimme eindeutig aus dem Gelächter herauszuhören. Seinem Gegenüber schmettert er nun die Jodlersilben ins Ohr: „Hops dul joe ije, hops dul joe i“ Und wie darauf der Leitner Rudl drüberschlägt! Gleich ist die ganze Gaststube erfüllt von der Zweistimmigkeit und vom Lärm der Unterhaltung, die sich natürlich um die Jägerei dreht. Dazwischen zischt es aus der Kaffeemaschine, alsob sie das Jodeln auch einmal probieren müsste…

Die musikalische Grundausstattung

Viel mehr noch als dieses Kennzeichen der eigenen Stimme, muss uns die musikalische Grundausstattung der Steirerinnen und Steirer beeindrucken. Darauf vergessen wir allzu gerne: Wir sind alle als Sängerinnen und Sänger geboren worden, für das Training sind wir allerdings selbst verantwortlich. Fest steht, dass wir dieses Training zu sehr vernachlässigen, unser Vermögen ruhen lassen, bis es so verkommen ist, dass wir uns selber nicht mehr hören mögen! Resignierend treten wir dann das Singen an die anderen ab, zählen uns zum Heer der Unmusikalischen und lassen andere für uns singen. Alsob das ein Ersatz wäre für die selbst erzeugte Musik, für im Gedächtnis eingelagerte Liedergeschichten.

Das Rückholen des Unwiederbringlichen

Singen ist aber nicht nur eine Frage des Trainings der vorhandenen Ausstattung. Singen ist pure Emotion und hat schon auch mit dem Selbstwertgefühl zu tun, mit Courage, mit dem mehr oder weniger ausgeprägten Wunsch sich mitzuteilen, seine ganz persönlichen Gefühle und Ansichten zu äußern und am Klangspiel teilzuhaben. Und: Singen ist Freiheit. In unseren Liedern erklingen ganz unverblümt Liebe, Sehnsucht, Kritik, Spott und Verehrung. Die Worte alleine würden wir nicht sprechen wollen. Es bleibt der Melodie vorbehalten, Inhalte in Gefühle zu übersetzen, sie für den Augenblick zu verpacken und gestalten. Dabei ist der Rückgriff in eine vergangene Welt und Zeit eine durchaus legitime Lust der Volksliedsänger. Die vielen Heimatlieder im Herz-Schmerz-Ton, sie entspringen der puren Freude am Rückholen des Unwiederbringlichen. Wen mag das in einer Zeit verwundern, in der sich die Trends gegenseitig anrempeln?

Hausgemachter Unterhaltungswert

Ja, Singen aus Lust und Laune, weit weg von höherer Absicht, vom Anspruch irgendwelche Kriterien zu erfüllen. Es geht darum, mir selbst und meinem Gegenüber zu genügen, Musikalität in Freude und Trauer bei der Hand zu haben. Wer über den musikalischen Gebrauch in der Steiermark Bescheid weiß, ist über den Zustand des Volksliedes und des Singens im allgemeinen nicht beunruhigt, so vielfältig erklingen die Lieder von der Alm, vom Wildschützen, der Liebe und dem Leben. Es sind nicht immer die zimmerreinen Verse, nicht immer altehrwürdige Volkslieder. Es hat sich auch die Schlagerwelt eingenistet, die Wienerlieder ebenso wie die Szenenlieder aus den beliebten Operetten und die populären Texte des Austropop. Auswahl, Interpretation und vor allem Anlass sind dem Zufall und den Notwendigkeiten angepasst. Das ist Unterhaltungswert und noch dazu hausgemacht! Wer von Kultur spricht, den muss die besonders lockere Handhabe im Umgang mit Musik beeindrucken, der muss darunter hochkarätige Styriarte-Konzerte und zugleich hochkarätiger steirische Ansinge-Kunst verstehen.

Die Sehnsucht nach dem musikalischen Wildbach

Das Fahrzeug haben wir unten stehen gelassen und den alten Almweg genommen, der direkt zum Gleinalm Schutzhaus führt. Der Weg steigt an, sodass unsere Unterhaltung bald verstummt. Es sind wohl immer dieselben Gedanken, die uns bewegen, wenn wir aus den Niederungen aufsteigen und damit auch Ballast ablegen, alles hinter uns lassen. Hier heroben verlassen wir die plangewalzten Wege, die Randstein-eingefasste Ordnung, dies zurechtgeschnittene Heckenlandschaft. Ja, unser Auge ist schon an das alles gewöhnt und doch erscheinen uns nun die Felstrümmer, die dazwischen wuchernden Farne und die umgestürzten Baumriesen nicht als Unordnung sondern als harmonisches Ganzes. Nun sind wir stehengeblieben um auf die Nachkommenden zu warten. Ob dieses Bild von harmonischer Unordnung vielleicht auch bei der Musik eine Rolle spielt? Gerade die Volksmusik weicht ja von musiktheoretischen Vorgaben allzu gerne ab. „Der Mensch“ – meint einer unserer Begleiter – „hat fast alles reguliert, und deshalb gibt es aber auch eine Sehnsucht nach dem musikalischen Wildbach. Leider ist der musikalische Versuch nichts wert, der Weg – hin zur Musik – wird nicht gerade geschätzt…“

Met und Lebzeltherzen

Nun sind es nur noch ein paar Schritte zum Almkirtag, denn die letzte Kehre ist erreicht und das laute „Tischtosch“ der Goaßlschnålzer ist schon zu hören. Schnell den Schweiß von der Stirn gewischt, der Hut gelüftet und hinein ins Kirtaggeschehen, durch die Standln mit Süßigkeiten, indischen Tüchern und Spielzeug. Zuletzt verbleiben wir beim Lebzeltstand und nehmen ein Glaserl Met, den süßen aber gefährlichen Honigwein. Es ist ein buntes Treiben, Begrüßen, Verabschieden und Gestikulieren, denn viele Almgeher treffen hier die Nachbarn von der anderen Seite, die Almbesitzer die Almhalter, die Jäger die Forstleute und die Familien einander. Der Jakobikirtag ist ihr alljährlicher Treffpunkt, ein Festtag.

Musik an allen Ecken und Enden

Drinnen in der Hütte vernehmen wir Harmonikaklänge, während draußen im Gastgarten schon fest gesungen wird. Das Lied „Wånn i auf d` Ålma geh, låss i die Sorg` dahoam…“ erklingt und viele Besucher des Kirtag stimmen mit ein, denn dieses Lied – eines der schönsten Almlieder – ist allgemein bekannt. Die Liesl Petek hat es angesungen, sie kann mit ihrem Mann, dem Ferdl alle Strophen singen, denn in ihrem Leben spielten die Lieder stets eine große Rolle.

Getanzt, auf Teufel komm raus

Drinnen wird jetzt wild getanzt, weil der Hansl eine Polka aus der Harmonie quetscht. Das muss man sich anschauen: Im Vorhaus, gleich neben der Ausschank, wo die Kellnerinnen ihre bis zum Rand gefüllten Serviertassen jonglieren, dort an dieser Engstelle tanzen mehrere Paare auf Teufel komm raus. Der Heinz hatte nicht einmal Zeit, seinen Rucksack beiseite zu legen und hätte damit beinahe die Gläser von der Theke gewischt. Dichtgedrängt umringen wir die Tanzenden, die jetzt zu einem stampfenden Franzé wechseln.

Einfach mitsingen ist himmlisch

Später finde ich den Spiegel Hansl mit seiner Frau Hilde in der Gaststube wieder, inmitten einer Runde Berggeher, gleich rechts am ersten Tisch. Das Lied vom „Ålmaspitz“ und vom „Wildbratschütz“ wird angestimmt und dann „Von da hohen Ålm auf die Niederålm“. Das Ehepaar Spiegel aus Übelbach ist ein Garant für das Gelingen solcher Almfeste. Sie kennen wohl hunderte Lieder und Jodler und ebenso viele Tanzmusikstücke. Diese glöckerln ihm so herrlich aus der Harmonika, weil der Hansl sein Leben lang gespielt hat, und weiß, worauf es ankommt. Es sind die rassigen Tanzmusiknummern, die flott gespielt, die Leute am Tanzboden zum Jauchzen bringen. Immer wieder werden Musik- und Liedwünsche geäußert, denn es gibt eine große Sehnsucht nach den Volksmelodien. Das Ehepaar ist mit seinem Liederschatz aber auch Animator zum Mitsingen. Das mögen die Leute, wenn sie aufgefordert werden selber zu klingen. Die schönen Almlieder und Jodler gehen den Spiegels nicht aus, sie sind selber Almgeher und mögen die frischen Almböden, den hantigen Wind und die Nähe zum Sternenhimmel, der zu später Stunde himmlische Gefühle zulässt.

Kleine Feste mit großem Sinn

Aus ihrem Munde klingen die alten Texte mehr als aktuell, fast als Gegenentwurf zum aufdringlichen Lärm in den Niederungen. Ihre musikalische Welt ist auf Zuneigung zum Nächsten aufgebaut, auf Freude an Poesie und Melodie und auf Respekt vor den klingenden Schätzen die zum Schönsten gehören, was Menschen jemals hervorgebracht haben. Sie sind ein besonderes Beispiel für die Lebendigkeit steirischer Musiktradition und sie sind hier stellvertretend für Viele beschrieben, die für uns den kleinen Festen den großen Sinn geben.


Beitrag für „Der Steirer Land“, Styria-Verlag, 2002; kleiner Textanteil entnommen aus einem Beitrag für den Volkskultur-Kalender 2000; ein geringer Textanteil wurde verwendet für  die Festrede für Erich Sepp, „Es gibt keinen Grund zum Zaudern“, München, 2008; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.