Volksmusik – eine Standortbestimmung

Volksmusik ist ein äußerst eingeschränkter Begriff, mit Volksmusik meint die Wissenschaft ein Spezifikum des Musikausdrucks von Menschen einer Region und zu einer bestimmten Zeit.

Es handelt sich also um eine äußerst veränderbare, von Menschen und Zeitströmungen gestaltete Musik, weil sie mündlich überliefert wird. Auch diese Besonderheit ist ein Spezifikum dieser Gattung.

Volksmusik ist keine Erfindung, sondern musikalisch-poetische Erinnerung, sie wird daher (im ursprünglichen Sinn von Volksmusik) nicht nach vorwärts erzeugt. Der Ruf nach Erneuerung der Volksmusik ist daher kontraproduktiv, solange sie – die Volksmusik – die Eigenheit der Beständigkeit aufweist und mit diesen Bewährungen gespielt wird, freilich soviel nur, dass die Reglements nicht aufgelöst werden und Volksmusik überlieferbar bleibt. Das wäre überhaupt ein wichtiges Kriterium. Und das sind der Lebensfaden und auch das Geheimnis von Volksmusik. Diesem Lebensfaden kommt mehr Bedeutung zu, als die Interpretation selbst. Es ist nämlich der Tod jeder Volksmusik, wenn sie dem Intuitiven entzogen wird, wenn sie zum Werk wird, anstatt zum Werkzeug.

Ist Ihnen diese Definition zu engstirnig?

Bietet diese Art von Musik zu wenig Spielraum für junge Leute? Nein, jedes Spielfeld braucht Ausmaße und Regeln, sonst eignet es sich nicht mehr zum Spielen. Das Feld wird zum Rasen, den man nicht betreten darf oder zur wilden Deponie die man nicht betreten will. Vielleicht können Sie das alles auf die Musik ummünzen und erkennen: Die Volksmusik hat Merkmale, unverkennbare und unverzichtbare. In Österreich ist es die enge Zweistimmigkeit, die Ländermelodik, es sind spezielle Formen wie der Jodler aber auch instrumentale Besonderheiten wie etwa der 5/8 -Takt bei den Schützentänzen.

Wenn ich von Volksmusik spreche, handelt es sich immer auch um Volkslied und Volkspoesie – sie bilden beim Gattungsbegriff eine Einheit.

Von den Lebensgesetzen der Volksmusik…

Wer von Volksmusik mehr wissen möchte, muss zuallererst mit den Lebensgesetzen vertraut sein. Weil Volkmusik meist keinen Urheber hat, sind viele der Meinung, dass sie sich auf die freie Verfügbarkeit berufen können. So quasi: Alles ist Volksmusik. Das Ergebnis ist enttäuschend: Was dabei herauskommt ist Spielmusik, klingt nach Etüden, nach Beliebigkeit, Klangwurst, denn wo ist die Hauptstimme, warum führt sie nicht; warum spielt der Bass nicht Bass, sondern verliert sich in virtuose Vieltönigkeit; warum ist die Begleitung so dick und aufdringlich; warum legt sich die zweite Stimme nicht knapp dazu, eindringlich und spannungsgeladen? Solcherart Musik hinterlässt keine Erinnerung, das Fehlen der Klangpoesie macht sie zu einer Begleiterscheinung, nicht aber zum Lebenselixier einer Unterhaltung. Virtuosität ist übrigens auch kein Qualitätsmerkmal von Volksmusik.

Trotz der hier nicht vollständig erwähnten Spielregeln, vielleicht gerade wegen und innerhalb dieser Spielregeln, verbleibt ein hohes Maß an Gestaltungsfreiheit. Diese betrifft nun nicht nur die Melodie und den Text, sondern – das macht die Volksmusik erst aus – vor allem den Augenblick der Zuwendung zum Publikum. Das Ständchen für ihn….und der Ehrenwalzer für sie…, das Lied zu diesem und ein anderes in jenem Augenblick. Immer anders zugewandt und gemeint, immer in anderer Verfassung gespielt und gesungen. Deshalb spricht man ja von Volksmusik als Gebrauchsmusik, das beginnt mit den Wiegengesängen der Mutter für ihr Kind und erreicht einen Höhepunkt mit den Hochzeitsladermelodien, der klingenden Aufforderung, die Einladung zur Hochzeit anzunehmen. Dazu gehören auch die geistlichen Lieder der Wallfahrer, die Gstanzl der Neujahrsgeiger. Das ist Volksmusik pur, wo sie einem Zweck dient, einem unmittelbaren. Das Abspielen einer CD ist hingegen ein Klacks ohne Seele. Haben Sie schon einmal am Mittelmeer frische Sardinen am Rost probiert. Sie haben nämlich nichts gemein mit der Masse, die sie in einer Fischkonserve vorfinden.

Volksmusik – eine Knetmasse

Volksmusik ist nicht gleichbleibend museal und festgeschrieben, sondern eine Knetmasse. Wir selbst sind im Augenblick die Urheber, wir selbst sind die Benützer einer Tradition, die Übersetzer für die Nächsten. Da geht es nicht um die originale Volksmusik, sondern um den Anlass, den wir zum Original erheben. Deshalb gilt auch für die Volksmusik: Der Weg ist das Ziel. Mit dem Erklingen des fertigen Produkts, sind nämlich die besten Augenblicke schon verflossen.

Das klingt nun kompliziert und einleuchtend zugleich. Ich werde Ihnen im Laufe des Abends noch über meinen Eindruck des Zustandes unserer volksmusikalischen Überlieferung in der Steiermark berichten. Zunächst aber ein anderes Szenario, damit es nicht so aussieht, alsob ich von der unglaublichen Breite des Begriffs Volksmusik nichts wüsste.

Alles nennt sich Volksmusik…

Also: jetzt stellen wir die Wissenschaft ins Eck und bedienen uns einer überspannenden Begriffsbestimmung. Heute subsumiert man unter Volksmusik alles, was nicht E- Musik ist. Die ganze volkstümliche Musikwelt, die Schlagerwelt fühlt sich unter Volksmusik gut aufgehoben und auch jene Musikgruppen, die unter Volxmusik (mit x) eine Runderneuerung der alten Volksmusik vorgenommen haben. Etikettenschwindel hin und Etikettenschwindel her – die wesentlichen Fragen zur Volksmusik hängen nicht mit dem Auseinanderhalten der Dinge zusammen, mit Einschaltziffern und Sendezeiten. Volksmusik ist im Medien- und Marktsinn ein Allerwelts -Begriff, steht für Buntheit, Unbeschwertheit, Urigkeit. Die Vermarktung, Fernsehen, Hörfunk, Schickimicki-Szene, Volkstümlichkeit und allerhand Wettbewerbe um die Volksmusik spielen durchaus eine Rolle, teilweise auch eine zweifelhafte. Mehr aber spielt eine Rolle, dass Volksmusik (die sie und ich meinen) nach wie vor – in den kleinen Gemeinschaften – eine Musik -selbst versorgende Aufgabe hat, eine soziale und kulturelle Aufgabe. Sie ist in ihrem Bestand nicht gefährdet, weil sie nicht dem Rampenlicht, sondern dem Leben näher steht, weil sie in eine Welt der Notwendigkeiten gebettet ist.

Weltoffene Volksmusik

Und Sie erinnern sich an den Beginn meiner Ausführungen: Volksmusik ist ein eingeschränkter Begriff – im wissenschaftlichen Sinn. Erfreulich ist: Musikantinnen und Musikanten pflegen im Gegensatz zu dieser eingeschränkten Sicht eine eher großzügige Auslegung, sie sind weltoffener und musikoffener als es das Wort Volksmusik erahnen lässt. Erfahrungsgemäß war das früher schon so, – die alte Musikantenzunft war keine Enklave – und jetzt erst recht nicht. Junge Volksmusikanten sind – weil sie verschiedene Musikwelten in sich tragen – die Verbinder zwischen den Generationen, die Spieler mit Tradition und Gegenwart, sie sind die Chance für ein neues Traditionsbewusstsein.

Wurzelbehandlung ist angesagt…

Das ist gut so, denn längst ist Wurzelbehandlung angesagt, nach dem landein und landaus modern gewordenen Überbordwerfen von Bewährungen. Die Sehnsucht nach Sesshaftigkeit und Heimat ist eine Folge des raschen Wechsels von einem Trend in den anderen. Entschleunigung ist angesagt. Die Klänge und Fertigkeiten unserer Altvorderen ernst zu nehmen, mitzunehmen, sie wieder für Augenblicke und Stunden zum Kollektiv zu machen, trotz alledem aber diese Zeit leben, sich in Familie und Nachbarschaft einfügen, Kleinraum bezogen und weltoffen zugleich sein. Ich weiß schon – zumal macht sich in Traditionsvereinen auch der Museumspilz breit. Im Großen und Ganzen aber bedeutet Tradition auch so etwas wie ein sicheres Standbein zu haben, dann kann ich es mir leisten, mit dem anderen Bein auch Neuland zu betreten. Sie alle, die sie sich um Traditionen, vom Tanz bis zur Kleidung und Brauchtum kümmern, Sie alle bewältigen auch die neue Zeit, sie lieben und leben, stellen Mann und Frau im Berufsleben, machen Reisen, senden SMS und e-mails. Wie nennt man eine solche Spannbreite von Wahrnehmung, die solchermaßen gelebte Dichte vom Brauchtum bis zur Bewältigung stündlicher Werbedurchsagen, von der Kenntnis alter Mundartausdrücke und Kochrezepte bis zur Bedienung immer wieder neu angeordneter Fernbedienungskästchen? Oder die Kenntnis gefinkelter Züge beim Kartentippeln bis zu neuen Herausforderungen im sozialen Bereich, bis zur Bewältigung familiäre Krankheitsfälle und sogar Verluste?

Meine Damen und Herrn, es ist Kultur in reinster Form. Im kleinen Kästchen Volkskultur hat Ihr Engagement und Ihre Lebenswelt eigentlich keinen Platz. Volkmusik und Volkskultur sind begriffliche Einschränkungen, Ihre Rolle aber ist eine kulturelle – das soll Ihnen bitte bewusst sein.

Noch nie wurde so viel volksmusiziert!

Wenn ich Ihnen den gegenwärtigen Zustand der Volksmusik in der Steiermark schildere, dann natürlich unter Einbeziehung all der Facetten von Musikleben, Freizeitmusik, Musiklehrstätten und medialer Verbreitung sowie Vermarktung, denn die Volksmusik lebt inmitten dieser Vielfalt und deren Wechselbeziehung. Ich gestatte mir daher eine Prognose, die vorerst einmal verwundern wird: Noch nie wurde so viel volksmusiziert. Die fast flächendeckende Versorgung mit Musikunterricht, die Popularität der Volksmusik und den typisch steirischen Volksmusikinstrumenten ist die Grundlage für ein reges Interesse und für den relativ frühen Einstieg Jugendlicher in die traditionelle Melodienwelt. Darüber hinaus widmen sich viele Chöre teilweise oder vorwiegend dem Volksliedsingen, zudem treten zahlreiche Instrumental – und Gesangsgruppen in der Öffentlichkeit auf, werden zu Veranstaltungen eingeladen und füllen auch die CD-Regale der Musikhäuser. Beachtlich ist auch der weibliche Anteil am Musikantenpodium, auch eine Entwicklung der letzten zwanzig Jahre. Diese Erfolgsmeldung lässt sich relativ leicht belegen, denn Volksmusik ist in dieser Form präsent und spielt auch in kleinen und größeren Gemeinschaften eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Da gibt es jedoch eine noch tiefere Verwurzelung

Wenn Volksmusik aber als Ausdruck des Gebrauchs der eigenen Musikalität, des Einsatzes dieser Musikalität im Brauch, als klingender Dialekt und generationenübergreifendes Kommunikationsmittel gemeint ist, dann wird es schon etwas schwieriger, den derzeit -Zustand zu beurteilen. Da gibt es durchaus offene Wünsche. Sagen wir es aber so: Ungeachtet aller Befürchtungen, dass unsere Volksmusik von aktuellerem Musikgeschehen verdrängt oder nur mehr in Pflegeheimen hochgehalten wird, stellt die Forschung einen konstanten Überlieferungsvorgang fest. Unsere kleinen Feste und Zusammenkünfte auf der Alm, im Familienkreis und dem örtlichen Gasthaus sind nach wie vor die Keimzelle für musikalische Geselligkeit und damit auch für Volksmusik. Das Steirische Volksliedarchiv verfügt über zahlreiche Belege dieses pulsierenden Geschehens, der musikalischen Selbstversorgung. Dabei ist aber auch feststellbar, dass gerade dieses freie Musikleben eine beachtenswerte Stil- und Gattungsvielfalt zulässt.

Von wegen echt oder nicht echt

Geradezu absurd ist es ja, von einer Trennung der „Volkstümlichkeit„ von der „Echtheit“ zu reden. Das sind Vorstellungen, die sich hier nicht bestätigen. Vielmehr genießen die Menschen den freien Zugriff auf altes und neues Repertoire, auf Schlager ebenso wie auf die bewährten alten Almlieder der Steiermark. Zuguterletzt sei aber auch darauf hingewiesen, dass sich in dieser gerade beschriebenen Volksmusikwelt, ebenso viele andere Welten treffen. Es sind heute die jungen Musikstudenten, die über die Kunstmusik auf Volksmusik aufmerksam werden und zugleich auch die musikalische Überlieferung entdecken. Laien und Künstler erobern gemeinsam die Melodien der Alten. Hier hat Volksmusik seinen tieferen Sinn und zugleich zu größten Chancen. Alles in allem: Eine faszinierende Spielwiese, denn letztlich entpuppt sich die Volksmusik dabei als der große Ideenspender. Die Grundmuster entstammen allesamt der beachtlichen Vielfalt volksmusikalischer Erinnerung. Innovation von Volksmusik muss sich daher im Gebrauch abspielen, bei den Randbedingungen und ist keine Frage der Interpretation.

Die Musik emotionaler Hoch-Zeiten

Im positivsten Falle des heutigen Gebrauchs traditioneller Lieder und Musik ist es zuallererst die Übereinstimmung mit dem Gegenüber, sei es die Familie, seien es Freunde oder die nähere Nachbarschaft. Volksmusik hat hier den feinsten Gehalt und tiefen Sinn und bedeutet für viele Menschen „zu Hause sein„ in einer Musikwelt, die ihre emotionalen Hoch–Zeiten bereichert und bei der man nicht auf einen Termin im Kulturplan warten muss. Volksmusik hat also mit Beheimatung zu tun, auch wegen ihrer wieder erkennbaren musikalischen Gestalt, aber auch weil sie ein Kollektivbesitz ist und der engen Heimat entsprechende Größe verleiht.


Vortrag beim Trachtenvereins-Verbandstag Leoben, 3/2002; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.