Kultur ist: Selber singen…..*

Und da ist vom Volkslied noch gar nicht die Rede, denn es sind wohl alle möglichen Gesänge gemeint, die selber gesungen werden können, vom Schlager, der Operetten- und Marschmusikmelodien bis zum Volkslied.

Also ist es ratsam, sich zuallererst einmal mit dem Singen zu beschäftigen – mit den grundsätzlichen Voraussetzungen-, ohne es zuvor in Portionen zu zerlegen. Singen ist uns nämlich in die Wiege gelegt, bevor wir überhaupt wissen, welche Lieder uns dereinst in den Bann ziehen werden. Kaum kommen wir auf die Welt, beginnen wir zuallererst – zu singen.

Singen ist also eine Überhöhung der Sprache, ein Transportmittel für Emotionen und Gefühle, der schönste Ausweg, wenn uns Sprachlosigkeit übermannt und bleibt leider – angeregt durch die allerersten positiven Erinnerung – zu oft ein Wunschtraum. Ohne das Singen wären wir also ein Stück ärmer, hätte Musikalität keinen Quell und auch keine Kinderstube. Die Vernachlässigung des Singens wäre daher eine unverzeihliche Kultursünde. Richtig: Steirische Chöre bilden ein beachtliches Potential von organisierter Singkultur. Die Bindung an einen Verein, eine Gemeinschaft, die Zielstrebigkeit des Lernens für Auftritte, die Schwerpunktsetzung Chorsingen im eigenen Leben – das alles spricht viele Menschen an, durchaus auch die Jugend. Ein anderer Teil der Bevölkerung scheut die damit verbundenen kleinen Verpflichtungen oder meint er sei zu wenig begabt. Vielen Menschen bietet sich außerdem keine Gelegenheit zum Mitmachen – und dieser Teil bildet leider die Mehrheit. Ist nun diese Mehrheit unmusikalisch und des Singens unkundig?

Vom überall unterlegten Klangteppich

Auf dem Wege zu einem ganz persönlichen Musikgebrauch, zum Singen als Teil unserer Unterhaltung, zu einer ständigen Präsenz des eigenen Liedbesitzes in Geselligkeit, gilt es also, die Hindernisse zu überwinden: Zum einen sind es Negativerlebnisse: „Du bist ein Brummer, sei still“, heißt es da des Öfteren. Zum anderen ist es unsere klanggeschwängerte Zeit, die einen eigenen musikalischen Ausdruck oftmals vereitelt. Allüberall werden wir mit Musik versorgt, ist kein Platz für unsere emotionalen Tonäußerungen. Zudem wird von den Medien und Tonproduzenten eine Qualität vorgelegt, ein Hörgenuss produziert, dem wir uns nicht gewachsen fühlen. Zusehends verstummen wir und überlassen das Singen den Neigungsgruppen und dem Lautsprecher. Zuguterletzt: Die solchermaßen aufgebaute Hemmschwelle können wir nur dann überwinden, wenn wir uns in eine überschäumende Stimmung versetzen. Singen hat dann gleich den unangenehmen Beigeschmack, von „nicht mehr ganz nüchtern gewesen zu sein… „

Die üppige Tag- und Nacht-Musikversorgung ist dabei aber noch näher anzuführen – von wegen Berieselung: Es gibt ja nur mehr fertige Klangteppiche, die unserem Leben unterlegt werden, es erübrigt sich das Selberknüpfen von Tonfolgen, das Einfärben nach Lust und Laune. Nein, der Teppich wird uns gelegt und es sind mit ihm eben keine Höhenflüge zu machen, er ist nur raumfüllend und degradiert uns zu Empfängern einer wohltemperierten Geräuschkulisse.

Also alles Hindernisse: Von der Vorgabe einer normierten Musikästhetik, den Tonträger – Ersatzstücken, der ständigen Berieselung bis hin zur Einteilung in die Musikalischen und die Unmusikalischen. Alles Ausreden? Jenen, die Ihr Singen verkümmern lassen, wäre durchaus mehr Selbstbewusstsein zu verordnen, die Bildungseinrichtungen sind in die Tragik einzuweihen, denn die von vielen geduldete Verkümmerung des Singens, kommt beinahe einer Selbstverstümmelung gleich. Kurz und gut: Jeder hat hier Verantwortung zu tragen. Es geht nicht in erster Linie um das Volkslied, sondern um die Förderung einer elementaren Ausdrucksmöglichkeit des Menschen.

Klingende Lebenserinnerungen in uns….

Unser Leben wird von Melodien begleitet, beginnend mit den ersten Wiegenliedern, die uns die Mutter ins Ohr singt. Später sind es Kinder- und Schullieder und noch später jene Hits, die die jeweilige Zeit hervorbringt. Unser Melodiengedächtnis wird angereichert durch das Repertoire der Ortskapelle, die Musikvorlieben in unserem ersten Freundschaftskreis und – durch Werbespots. Dann kommen der Jugendchor, die Stücke in der Musikschule, in der ersten Jugendband dazu, nebst jenen Klängen, die der Nachbar auf seiner Steirischen produziert. Die Älteren haben noch die Wanderlieder der Jugendbewegung im Hinterkopf, ebenso die Schlager der 30er-Jahre. Repertoireerhebungen bringen nämlich eine erstaunliche Fülle an musikalischen Erinnerungen zutage, aus denen sich politische Veränderungen, Modeerscheinungen, technische Errungenschaften, ja, eigentlich ein ganzer Lebenslauf heraushören lassen. Lebensgeschichte in Melodien und Texten, ein Beweis für eine dem Leben stark verbundene Musikkultur. Welche Rolle spielt dabei die volksmusikalische Tradition, Musik im Brauch?

Die späte Entdeckung des Bewährten

Das Interesse an der traditionellen Musik unseres Landes und überhaupt an Traditionen, wird – mit wenigen Ausnahmen – spät geweckt. Erst nach der Schaffung beruflicher Existenz und familiärer Bindung sind die Menschen an Familiengeschichte, an einem Rückblick und Einbindung in die Geschicke der Familie, des Ortes interessiert. Zuvor galt die ganze Aufmerksamkeit der Zukunft, der Sicherung des Arbeitsplatzes und der Familiengründung. Tradition ist also eine Domäne der Erwachsenenwelt, eine recht späte Erkenntnis und Besinnung auf Bewährtes. Dieser Rückgriff kann aber nur gelingen, wenn uns die Kindeserinnerungen hinführen, wenn der rote Faden als Ahnung verblieben ist. Kinder sollten deshalb immer und überall dabei sein, denn Kinder zeichnen heute auf, was sie morgen entwickeln. Volksmusik, Volkstanz und Volkslied im Kindesalter, gehört daher zum Merkstoff, zum Pflichtteil Heimatkunde, der nicht aufführungsreif einstudiert werden muss, sondern dem späten Wiederentdecken dient.

Lieder sind in Musik verpackte Lebensgefühle…

Volkslieder entspringen einem Generationen – übergreifenden Gedächtnis, vermögen scheinbar Unwiederbringliches hervorzaubern und geben uns zugleich das Gefühl, durch die Weitergabe dieser Lieder auch einen Anteil an der Unsterblichkeit des Kulturgutes beigetragen zu haben. Das Singen selbst aber stillt Sehnsüchte, fördert das Rollenspiel, verbreitet eine besondere Behaglichkeit. Die enge Verflechtung zwischen Text und Melodie macht so manches Wort lebendiger und verständlich. Unser Volksliedschatz hält tausende Lieder bereit, darunter die schönsten Melodien und die tiefgründigste Poesie. Wer jemals selbst geklungen hat, wird bestätigen, dass Singen gut tut. So einfach ist es gesagt „gut tut“ – und doch verbirgt sich dahinter das Wohlgefühl des selber Klingens, welches den ganzen Körper erfasst und damit auch alle Sinne. Singen ist demnach gesund!

Ein Volksliedarchiv ohne Spinnweben…

Dem Steirischen Volksliedwerk – einer Einrichtung des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung – ist es nicht nur gelungen, ein altehrwürdiges Liederarchiv aus dem Dornröschenschlaf zu wecken. Vielmehr: Dem Wort Traditionspflege wurde ein neues Image verpasst, Volksmusik wurde durch die erfrischende Präsenz des Volksliedwerkes zu einem attraktiven Teil des Kulturlebens, zu dem sich auch junge Menschen in großer Zahl hingezogen fühlen. Statt der Angst vor dem Verschwinden des Volksliedes, hat das Volksliedwerk stets ein deutliches Signal in Richtung „Lust auf Tradition“ gegeben und auf die Eigenverantwortung hingewiesen: Musikalische Erinnerungen, Melodien von Vorgestern sind nur so gut, wie wir sie selbst zu tragen vermögen. Dazu sind die Steirerinnen und Steirer aufgerufen.

Wer heute dieses Volksliedarchiv besucht, dem stehen etwa 50.000 Belege (Handschriften, Bibliothek, Bildarchiv, Tonarchiv..) zur Verfügung. Ein junges motiviertes Team garantiert für fachliche Kompetenz und jene Frische, die in zahlreichen Publikationen als Markenzeichen des Steirischen Volksliedwerkes zum Ausdruck kommt. Diese besonders innovative Einrichtung des Landes Steiermark dient schließlich auch der Wirtschaft und dem Tourismus. Diese Kulturarbeit ist teuer, Unkultur können wir uns aber schon gar nicht leisten.

* DDr. Günther Nenning anläßlich der Präsentation „Mit allen Sinnen„ Salzburg Mai 1998


Beitrag für den Steirischen Brauchtumskalender, Seite 86-89, Graz, 2002; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.