Volkslieder leben vom Gedächtnis…

Das Volksliedarchiv hat sich als Speicherplatz und kultureller Motor bewährt.

Volksliedarchive sind nur Sammlungen von Sammlungen, denn der eigentlich Speicherplatz befindet sich im Menschen selbst. Ja, diese stets abrufbereite Sammlung befindet sich nicht in der Vorzimmervitrine, auch nicht in der Kommodenlade der guten Stube und nicht im Museumsquartier. Nein – sie befindet sich in uns.Da gibt es Rezepte von der Großmutter, Strategien für das Kartenspiel, eine Menge Telefonverbindungen, Geburtstage der nahen Verwandtschaft und das Losungswort für das Sparbuch. Ja, und ebenso der Speicherplatz für die Familiengeschichte: Vaters Stimme und Großvaters Ermahnungen klingen noch im Ohr. Dann und wann sind es auch Erinnerungen mit Sperrvermerk. Das sind jene, die immer wieder einmal zurückgedrängt werden müssen, sie gehen niemanden etwas an – seien es nun die schönsten oder die schlechtesten Seiten des Lebens gewesen. Und dann gibt es noch eine Reihe Witze und Weisheiten, wie etwa „A Schlechta versamt nix und a Guata holts leicht wieder ein……“ Solche „Sager“ am Wirtshaustisch sind die Würze jeder Unterhaltung, man lernt sie wie Lieder – so nebenbei und über eine lange Zeitspanne.

Vom Liedersammeln im Kopf

Und nun zur Liedersammlung im eigenen Kopf. Da erinnern wir uns zuerst der Kinderlieder und Schullieder „Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt…“ und an jene, die wir pausenlos im Radio gehört haben „Drei weiße Birken in meiner Heimat stehn…..“ bis hin zu den Schlagern „Jimmy Brown, das war ein Seeman..“ und den Liedern aus unserer Zeit in Chorgemeinschaften „Diandl, mirk da den Bam, wo ma zsåmmkemman san…“. Wenn lange Zeit nicht gesungen wird, bleibt nur mehr die Melodie im Kopf und ein paar Fragmente vom Text. Wenn wir Lieder hingegen in alle unsere Festivitäten und geselligen Anlässe mit einbeziehen, wenn wir sie sozusagen gebrauchen und jede gesellige Gelegenheit auch besingen, dann schaut es anders aus – wir haben sie intus und stets auf den Lippen: Das „Schau, schau wia `s regnan tuat….“ ebenso wie das Lied „Von da Kapplerålm, då håb is åbigschossn…“ und „ Übern Laurenziberg“.

Es sind die Standards der kleinen Unterhaltung, die zur rechten Stunde – eins nach dem anderen – abgerufen werden. Lieder sind eigentlich das Schönste, was man im Kopf haben kann. Und es sind nicht wenige Menschen, die diesen Liedbesitz in sich tragen und auf eine Gelegenheit warten, wieder einmal klingen zu dürfen.

Die große steirische Volksliedsammlung

Das Steirische Volksliedarchiv besitzt die in Österreich wertvollste Sammlung auf dem Gebiete des Volksliedes, der Volksmusik und Volkspoesie. Ein Großteil der etwa 40.000 Belege stammt aus der fruchtbaren Forschungszeit vor 1900 und unmittelbar danach. Es waren viele Sammler beteiligt – Lehrer, Wissenschaftler, Liebhaber und Chormeister, die diesen Liederschatz zusammengetragen haben. Einerseits in Form von einzelnen handschriftlichen Aufzeichnungen, eingesandten Berichten und andererseits in kompletten Musikanten- und Liederbüchern. Dazu gehört aber auch ein reichhaltiges Archiv der Tonaufzeichnungen, beginnend mit der Wachswalze, die später von der Schellack, Vinil-Schallplatte, dem Tonband, der Kassette und CD abgelöst wurden. Es war ein langer Weg bis zur heutigen digitalen Aufzeichnung. Das Volksliedarchiv besitzt aber auch eine umfangreiche Fotosammlung, eine Fachbibliothek mit etwa 10.000 Titel zum Thema Volksmusik und Volkspoesie. In allen Abteilungen sind Folkmusik, volkstümliche Musik, sowie die Schlager der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit eingebunden.

Zu den zahlreichen Besuchern zählen auch viele Diplomanden. Sie finden hier die notwendigen fachlichen Unterlagen, aber auch Biographien zahlreicher maßgeblicher Volksliedförderer, – forscher und -pfleger, nebst dem geordneten Zugriff zu Informationen über musikalisches Brauchtum in der Steiermark. Diese Einrichtung hat sich seit 1982 zu einer äußerst kompetenten Servicestelle entwickelt und setzt weiterhin interessante Initiativen.

Keine Spur von musealer Pflege

Dieses vom Volksliedarchiv betriebene Liedersammeln geschieht aber nicht unter dem Aspekt des Rettens, sondern des Vergleichens. Nicht nur das Auffinden, Aufzeichnen, Archivieren und Weitergeben längst vergessener Gesänge und Instrumentalmusik gehört zu den Aufgaben. Heute geht es auch um vergleichende Studien zum Überlieferungsprozess und zum Variantenreichtum. Es geht um den Stellenwert, den das Singen und Musizieren, den die solchermaßen bewährte Tradition in unserer heutigen technisierten Lebenswelt haben kann. Veranstaltungskultur, die Prinzipien der Gastlichkeit und der Nachbarschaft sind der Nährboden und der Lebensnerv von Volksmusik. In dieser Lebensbezogenheit liegt der ganze Wert von Volksmusik. Eine historisierende und damit museale Pflege würde das Engagement und den Aufwand, den das Steirische Volksliedarchiv betreibt, keinesfalls rechtfertigen.

Diese ins Steirische Volksliedarchiv einfließenden Forschungserkenntnisse beeinflussen auch die Initiativen zur Förderung der musikalischen Umgangssprache. So hat sich etwa der Liederdienst zu einer wichtigen musikalischen Förderstelle entwickelt. Etwa 8000 Liederwünsche werden alljährlich erfüllt, wobei die Anfragen vorwiegend aus der Steiermark kommen, nachgereiht die Bundesländer und das benachbarte Ausland. Auslandsösterreicher in aller Welt benützen inzwischen dieses Service, denn mit dem Abstand zur Heimat wächst auch die Sehnsucht nach den einst gespeicherten und inzwischen verschollenen Liedern. Die Kurse des Volksliedwerkes (etwa Jodeln, Harfenspiel, Okarinaspiel….) und die Seminare (Musikwoche, Klassik trifft Volksmusik…) sind nicht nur auf die Vermittlung von Spieltechniken abgestimmt, sondern vorrangig der Begegnung mit den Vorbildern gewidmet. Die Vermittlung von Volksmusik in den steirischen Schulen wird zusätzlich durch das Projekt „Mit allen Sinnen“ gefördert. Für Volksmusik-Ausbildung von Kindern und Jugendlichen stehen seit einigen Jahren Stipendien zur Verfügung; das Musizieren in der Familie erfährt damit eine wirksame Förderung.

Es ist also ein offenes Volksliedarchiv, zu dem die Steirerinnen und Steirer Vertrauen haben: Alljährlich steigt die Zahl der Archivzugänge. Es sind viele Einzelwidmungen aber auch umfangreiche Nachlässe, die dem Archiv überantwortet werden. Meist verbunden mit dem Auftrag, das Steirische Volksliedwerk möge die Lieder wieder zum Klingen bringen.

Während also im militärischen Sprachgebrauch das Wort „Archivieren“ soviel wie „unter Verschluss“ halten bedeutet, gilt für das Steirische Volksliedarchiv das Gegenteil: Die Herausgabe der Schätze ist das uneingeschränkte Ziel.

Nach der Devise: Tradition mit Pfiff…

Alles in allem ist es dem Steirischen Volksliedwerk mit seinem Archiv – eine Einrichtung des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung – nicht nur gelungen, ein altehrwürdiges Liederarchiv aus dem Dornröschenschlaf zu wecken. Vielmehr: Dem Wort Traditionspflege wurde ein neues Image verpasst. Volksmusik wurde durch die erfrischende Präsenz ein attraktiver Teil des Kulturlebens, zu dem sich auch viele junge Menschen hingezogen fühlen. Statt das Sterben der Volksmusik an die Wand zu malen, wurde ein deutliches Signal gesetzt: Musikalische Erinnerungen, Melodien von unseren Altvordern verdienen zuallererst unsere Wertschätzung, müssen aber auch von uns getragen und gestaltet werden. Dazu bedarf es manchmal der Ermunterung und Impulse, sowie einer breiten Öffentlichkeitsarbeit. Dieser Anwaltschaft hat sich das Unternehmen gerne angenommen.

Ein wesentlicher Träger der Botschaften ist die Zeitschrift „Der Vierzeiler“, die nun schon über 20 Jahre erscheint. Die zahlreichen wissenschaftlichen Reihen und Liederbuchausgaben für die Praxis seien hier ebenso erwähnt. Darüber hinaus transportiert die Homepage des Volksliedwerkes – wöchentlich aktualisiert – diese Initiativen.

Volksliedwerk nunmehr in der Kulturabteilung

Nunmehr in der Kulturabteilung des Landes Steiermark angesiedelt, nimmt das Steirische Volksliedwerk eine durchaus beachtenswerte Position ein. Mit seiner einerseits wissenschaftlichen Kompetenz, der Strahlkraft durch die jährlich über 450 Veranstaltungen der Reihe „Musik beim Wirt“, seine gut durchdachten und profund besetzten Seminarangebote und seine weltweite Lieder – Servicefunktion ist das Steirische Volksliedwerk eines der Aushängeschilder des Landesbetriebes. Ausgehend vom Anfang der 90er-Jahre entwickelten Leitbildes des Volksliedwerkes und zahlreicher innerbetrieblicher Fortbildungsseminare ist es zudem gelungen, ein scheinbar altes Thema – nämlich die Pflege von Volksmusik – in einen sympathisch – aktuellen Kontext zu stellen und so zu einem Anliegen vieler Menschen zu machen.

Zurück also zum Kern der Sache, zum Sammeln im Kopf und dem Sammeln im Archiv: Ausschlaggebend für den heutigen Stellenwert der Volksmusik ist offensichtlich die große, wertvolle Sammlung im Steirischen Volksliedarchiv. Sie ist Anlass und Motivation für weitere Sammeltätigkeit in der Gegenwart und auch Keimstätte für immer wieder neues Interesse. Mehr noch: Sie ist der Verursacher einer längst fälligen Wertschätzung.


Beitrag für „Steirische Berichte“, 9/2001; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.