Die musikalische Kinderstube

Das Steirische Volksliedwerk verfügt nicht nur über einen reichhaltigen Schatz alter und neuer Lieder, sondern ist darüber hinaus Forschungs- und Förderungsstelle für Volkslied und Volksmusik.

Durch die gewonnenen Erkenntnisse setzt das Steirische Volksliedwerk  mehr denn je auf die Bedeutung der Überlieferung, auf „Musikübermittlung durch Zufall“

Unsere Welt ist so voll von Melodien und auch von Geräuschen. Es tönt tagaus – tagein, gleich einem Rundumschlag. Wer mag sich da verschließen; wer kommt ohne Melodien aus? Sind Melodien nicht die Kratzgeräusche einer bewegten Seele, ob nun Frohsinn oder Trübsinn die feinen Kräfte entstehen lässt? In Anbetracht dieser doch elementaren Bedeutung des hörbaren und unhörbaren Gesanges, der Höhen und Tiefen unserer Sprache, der Urlaute in unseren Ausrufen der Überraschung, der Bestürzung und Freude, erfährt das Thema „Jugendsingen“ eine neue Dimension. Singen ist zwar nur eine Sprache des Lebens. Ein Verstummen dieser Ausdrucksmöglichkeit bedeutet aber doch einen Verlust. Demnach kann nichts unversucht bleiben, jungen Menschen Lieder zu geben und sie zum Klingen zu bringen.

Singen – ein Lebenselixier

Den Schulen und Chorgemeinschaften fällt hier die Rolle zu, musikalische Fähigkeiten zu fördern und zum musischen Bildungsweg als ein so notwendiges Lebenselixier hinzuführen. Ich selbst neige nicht dazu, die Verantwortlichkeit immer an die Schule abzutreten. Auch Tischsitten sind nicht in der Schule zu lernen, sie sind ein Ergebnis aus dem erlebten Gegenüber. Im Hinblick also auf das Mitsingangebot in den Chorgemeinschaften, die besondere Bemühung um den Sänger- und Sängerinnennachwuchs, auch die Anwendung didaktischen Liedgutes und die große Auswahl an neuen Liedern, aber auch im Hinblick auf die größte Jugendchorveranstaltung in Österreich, nämlich das Österreichische Jugendsingen verweise ich allzu gerne auf das…

Singen als Folge der Nachahmung

Wir unterschätzen oftmals die Bedeutung dieser für das Kleinkind ersten erlebbaren Klangwelt. Lange vor dem „Melodiennachsingen“ wird mitgesummt und – mitgeklungen. Als Klangvorbild gilt aber nicht nur die Mutter, sondern auch der CD-Player und das Fernsehgerät. Beeindruckend ist die Exaktheit der Übernahme von Melodien durch Kleinkinder, die solcherart ihre erste Musikausbildung genießen. Später finden die Volksliedforscher bei den „Gewährsleuten“ die gefilterten Reste menschlicher Musikaufzeichnung. Wir nennen es dann Überlieferung oder einfach gesammelte Erfahrung.

Ein Lehrling kann seinen Beruf nämlich durch Lehrbehelfe, ja sogar durch Fernstudium erlernen. Was der Meister und vorher der eigene Vater jedoch „tut“ und vorlebt, sogar kommentiert, ist nicht nur Abhandlung, sondern Handlung selbst – visuelles Erlebnis. Auch das farbig illustrierte Kochbuch ersetzt nicht die Erfahrung des Dabeiseins, wenn Vorbilder mit Fingerspitzengefühl die feinsten Gerichte herstellen. Liedgebrauch, z. B. des Vaters gepfiffene Melodie während der Arbeit hinter dem Haus ist die Kennung des Vaters, unverwechselbares Merkmal und somit Anlass zur Nachahmung. Musikalische Rituale sind Lebenshaltung und Auftrag, Bewährtes zu übernehmen, damit aber auch, sich der Kontrolle des Vorbildes zu unterwerfen.

Was für eine Forderung entsteht aus dem eben Gesagten?

1.     Wir sollten unsere kleinsten Feste in Familie und Nachbarschaft musikalisch bereichern. Dazu bedarf es keines vierstimmigen Satzes und keiner Stimmgabel, sondern der Kenntnis der richtigen Lieder für den jeweiligen Augenblick. „Hoch soll er leben“, von allen Anwesenden gemeinsam gesungen, ist eben auch eine solche wertvolle Einbindung musikalischer Mindestkenntnisse.

2.     Unseren „Erwachsenenfesten“ sollten Kinder nicht ferngehalten werden. Erwachsenwerden beginnt mit dem Eintritt ins Leben. Weisheiten, Redensarten und auch alte Lieder müssen mitwachsen. Dabeisein bedeutet viel.

3.     Stundenfüllende Kinderprogramme und das Abliefern der Kinder in eigens dafür reservierten „Ecken“ während eines Familienfestes (Hochzeit) ist zwar bequem, aber eine sehr bewusste Ausschaltung des Überlieferungsvorganges.

Der Liedgebrauch in der Familie ist unersetzbar

Singen, so meine ich, gehört zur Grundausstattung des Menschen, und der Eintritt in den Kinderchor kann die Gepflogenheit des Liedgebrauches in der Familie nicht ersetzen. Wir neigen heute allzu gerne dazu, die mitgebrachte Grundausstattung in Freizeitprogramme umzuwandeln, Neigungsgruppen zu bilden anstatt sie im Leben selbst anzuwenden. Das Unverständnis, mit dem die etablierte Hochkunst der musikalischen Grundausstattung und somit dem Gebrauchssingen begegnet, veranlasst mich, auf Musikleben und Musikerleben noch vor dem Schulbildungsweg und außerhalb der Ensemblebildung hinzuweisen.

Liedbesitz als Erinnerung einer erleben Kinder-Klangwelt ist eine unwiederbringliche Gefühlsspeicherung, ein Sprachrohr der Seele. Jede Form der hohen Kunstmusik profitiert von diesem „musikalischen Fußbad“, auf das nicht oft genug hingewiesen werden kann.


„SING & SANG“, Steirisches Chorjournal, 2/ 1992; Eltern-Info, BG und BORG Dreihackengasse, Graz, 6/ 1999; Sätze und Gegensätze, Graz, Band 10/ 1999; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.