Weihnachten kommt wieder – haben Sie schon Lieder?

Mein Gott, wo ist der Text geblieben, wo ist die Stimme? Die Weihnachtskarten sind bestellt und die Wunderkerzen sind in Ordnung.

Tragisch, wenn sich Weihnachten nur mehr um das Besorgen der Accessoires dreht. Aber – so schlimm ist es noch lange nicht, denn wir vermerken heute eine neue Hinwendung zu den schönen Dingen des Lebens, zu persönlicher Note, Gefühlen und Regungen. Lieder spielen dabei eine nicht unwichtige Rolle. Sie sind einerseits der Klebstoff zwischen den Generationen – sie verbinden die Ältesten mit den Jüngsten. Sie sind aber auch die Nahrung für die Rituale des Lebens, und längst sind sich die Experten darüber einig, dass der Mensch Rituale braucht.

Der Mensch braucht Rituale

Singen bedeutet aber auch eine besondere Öffnung, eine Verausgabung, ein sich von einer sehr sensiblen Seite her zeigen. Die Augenblicke innerlicher Regung sind auch die günstigsten für das Singen, denn auch jene Menschen, die sich nicht zu den musikalischen zählen, singen in diesen Augenblicken etwa „Ein Prosit der Gemütlichkeit …“, „Happy birthday to you …“, weil es gilt, einer besonderen Stimmung Ausdruck zu verleihen oder weil eben einem Jubilar gratuliert wird.

Und was ist mit Weihnachten?

Weihnachten versetzt uns auch in einen solchen Ausnahmezustand. Unter dem Eindruck der Lichter und im Bewusstsein des hohen Festes wächst auch die Bereitschaft, nicht nur beim gesprochenen Wort, den vorgedruckten Weihnachtsgrüßen zu verbleiben, sondern ein wenig mehr beizutragen, seine innere Stimme in Klang zu verwandeln. Zu keiner Zeit im Jahr ist die Bereitschaft so groß, in alten Melodien und Texten Kraft und Trost zu suchen, unsere menschliche Rolle auf diesem Planeten im Licht und zugleich im Schatten der Größe des Ganzen zu sehen.

 Wissenschaft und gelebte Praxis

Das Steirische Volksliedwerk verblüfft nicht nur durch seine besonderen Kenntnisse, was die Liedverwendung, das Liedschaffen und die Überlieferungsprozesse betrifft. Diese Institution vereint heute wissenschaftliche Erkenntnisse mit gelebter Praxis und dem notwendigen publizistischen Spürsinn. Der weiße Saal der Grazer Burg war diese Tage zum Bersten voll. So groß war das Interesse an einem neuen Weihnachtsliederbuch in der Reihe Corpus Musicae Popularis Austriacae. So heißt nämlich die im Vorjahr begonnene Reihe, die als Gesamtausgabe des Österreichischen Volksliedschatzes konzipiert ist und ein Jahrhundertwerk darstellen wird. Noch sind nämlich erst vier Bände erschienen, es sind noch weitere für die Steiermark geplant.

Corpus Musicae Popularis Austriacae

Dieser nun präsentierte Band „Weihnachtliches Liedgut“ aus der Sammlung Lois Steiner beinhaltet rund 190 Lieder aus der durch das Stift Lambrecht geprägten obersteirischen Landschaft um St. Blasen-Karchau. Die tiefe Frömmigkeit dieses Landstriches ist im steirischen Volksliedarchiv durch über 700 geistliche Lieder dokumentiert. Der Band 4 ermöglicht einen schönen Einblick in die wunderbar reichhaltige Melodienlandschaft, in die außerordentlich schöne Sprache des Volkes, bietet gleichzeitig die Ergebnisse aufwendiger quellenkundlicher Forschung und ist zusätzlich mit einem Melodienregister ausgestattet. Zahlreiche Bilder aus der Historie und dem Fundus jüngster Feldforschung ergänzen die Sammlung. Die Mitarbeiter des Steirischen Volksliedarchives sind selbst begeistert von diesem Buch. Allen voran die Autorin und Musikwissenschaftlerin Eva-Maria Hois, die dieses Werk zusammen mit Prof. Walter Deutsch erstellt hat.

Die Klangfarbe einer Landschaft als Lebensqualität erkennen

Für die Steiermark bedeutet dieses Bemühen um die musikalische Volkskultur einerseits eine tiefe Verbeugung den Menschen gegenüber, die Musik mit Sitz im Leben praktiziert haben, aber auch jenen gegenüber, die für die Sammlung und Aufzeichnung verantwortlich zeichnen. In allen Regionen der Steiermark lebte und lebt Musikkultur im Kleinen, die Gebrauchsmusik als Lebensmittel, sei dies nun im Ausseerland oder auch im Ennstal. Das Buch ist Mahnung, die Schätze zu heben, nicht sosehr aus dem Blickwinkel des Liebhabers, sondern im Bewusstsein, dass es sich um bedeutsames Kulturgut handelt, dass Sprache und Klangfarbe einer Landschaft auch Lebensqualität bedeuten.

 Das feine Innenleben und der rauhe Aussenton

Nun begeben wir uns also wieder auf die vorweihnachtliche Reise und verweilen da und dort – neben dem geschäftigen Treiben – bei den Tönen der Turmbläser und den hellen Stimmen einiger Sänger. Es lässt sich auch mit vollen Einkaufstaschen mitsingen – zumindest aber mitklingen. Der weihnachtliche Klangteppich bewirkt aber auch einen gewissen Verbrauch. Zum hohen Fest sind die Warenhaus-Weihnachtslieder dann meist schon verglüht, wir können sie nicht mehr hören. Liederbücher singen zwar nicht, sind aber oftmals der Anstoß, es wieder einmal zu versuchen. Ja – versuchen! Niemand, auch nicht das Jesuskind und schon gar nicht Ochs und Esel werden sich daran stoßen, wenn das frohe Innenleben einen rauhen Außenton erzeugt. Wer weiß, was damals die Hirten ohne Stimmbildung zustande gebracht haben? Die Engel schon, freilich, – aber wer ist schon einer?


Zeitschrift „Blick“, Gröbming, 12/ 1996; Sätze und Gegensätze, Band 10/ 1999; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.