In Generationen denken…

Miteinander zu leben in mehreren Generationen, so zwischen „Werden“ und „Gewesensein“, ist Herausforderung, Verwirklichung und Kräftemessen zugleich. Das Abseilen aus diesem Mischwald hat da und dort eingesetzt. Man will unter sich sein, oder man liefert jemanden unter seinesgleichen ab.

Wer will schon so denken und tun wie die Älteren und schon gar nicht wie die Jüngeren. Aber Vorsicht: Die Flucht aus diesem Spannungsfeld ist meist zugleich Verabschiedung aus der Beglückung des Mitnehmens von Bewährtem und des Eintretens in die Rolle des Vermittlers.

Kultur ist eine Frage der funktionierenden Begegnung

Kurzum: Unser Thema ist Aufruf, die Wirkungsweise dieses Zusammenlebens ernst zu nehmen. Und wiederum soll daran erinnert werden, dass Volksmusik – im Sinne einer in Generationen gewachsenen musikalischen Ausdrucksform – eine Frage der funktionierenden Begegnung zwischen Jung und Alt, zwischen Könnern und Lernenden ist. Jeder von Euch weiß es: Die Qualität unserer „Altvorderen“ haben wir lange übersehen und belächelt, abgelehnt, dann entdeckt und geliebt, zuletzt schmerzlich vermisst. Den Zeitpunkt bezeichnen wir mit „zu spät“. Wer kennt nicht die Klage: „Er hätte uns noch viel zu sagen und lernen können.“ Ja, in dieser Zeitspanne zwischen Erkennen und Vermissen ist auch so manche Melodie hängen geblieben. Die Überlieferung von Bewährtem hat hier ihre kleine Chance. Dieser Augenblick der Besinnung ist wahrscheinlich die Wiege vieler Traditionen.

Der ideale Umschlagplatz für Lieder

Auf dem Weg des Lebens beginnt früher oder später der Prozess des Rückfragens und Rückversicherns. Das haben der Berg mit dem Lebenswege gemeinsam: Je weiter wir uns hinaufbewegen, je besser der Überblick wird, umso mehr interessiert uns auch, wer hinter dem Mitwanderer steckt. Sein Leben, seine Lebensweisheit, sein Innenleben hat plötzlich Bedeutung, als wollten wir uns der Verlässlichkeit des Kameraden vergewissern. Wo sich Jung und Alt treffen ist pulsiert Wissensdurst und Mitteilungsbereitschaft. Hier ist der ideale Umschlagplatz für unsere Lieder…


Der Vierzeiler, Leitartikel zum Titelbild und Thema, 9. Jahrgang, 3/ 1989; Sätze und Gegensätze, Band 10/ 1999 unter „Fast zu spät“; Grundsätzlich sind alle hier veröffentlichten Inhalte urheberrechtlich geschützt und sämtliche Rechte vorbehalten.